In der Therapie wurde ich immer wieder gefragt, ob ich meine jeweilige Angst als real oder unreal einstufen würde. Mir war dann gleich klar, worauf der Therapeut hinaus wollte. Wenn er mich das
schon fragt, ist meine Angst wohl unreal, was so viel bedeutet wie unbegründet. Mein inneres Kind macht aus solchen Aussagen ganz schnell: Stell dich nicht so an! Du bildest dir das ein! - Wenn
ich mir dann noch anhören muss, dass meine Reaktion nicht angemessen sei, ist alles aus. Denn das heißt nichts anderes, als dass meine Gefühle und Wahrnehmungen falsch sind.
Was Therapeuten mit dieser Real-Unreal-Theorie erreichen wollen, ist, dass der Patient erkennen soll, dass ihm in der aktuellen Situation keine echte Gefahr droht, und dass er somit seine Angst
loslassen und selbstwirksam handeln kann. Das ist im Kern eine gute Idee. Aber wie ich schon im Artikel Würdigung des verletzten inneren Kindes erklärte, schießt der Therapeut mit dieser Nummer weit am Ziel vorbei. Das innere Kind
wird nicht gesehen und gehört (nicht ernst genommen) und zurück in seine dunkle Ecke geschickt, wo es einsam an sich selbst verzweifelt und langsam abstumpft, bis es nicht mehr spricht. Das ist
lediglich ein Beiseiteschieben von Ängsten aber sicher kein Lösen. Und dann noch der Knallerspruch: "Sie müssen loslassen lernen!" Ich kriege also meine Angst postwendend in den Arm gedrückt mit
dem Urteil, dass sie nicht richtig ist, und soll sie dann "einfach" loslassen, damit es mir besser geht. Aber irgendwo kommt diese Angst doch her!
Wie erleichtert war ich, als meine derzeitige Therapeutin diese Theorie mit vehementem Kopfschütteln abwiegelte. Als geübte Patientin hatte ich schon damit begonnen, mir selbst diese Antwort auf
meine geschilderte Situation zu geben: "Ich weiß ja, dass diese Angst nicht real ist..." - "Davon halte ich nichts!" - "Ah... Ok, ... ich eigentlich auch nicht..."
Ängste, die für Außenstehende nicht zur aktuellen Situation passen, stammen aus der Kindheit, in der sie sehr wohl ihre Berechtigung hatten. Die neue Situation im Erwachsenenalter ähnelt dieser
alten Situation und triggert so die damals damit verbundenen Gefühle - in diesem Fall Angst. Es ist gut zu erkennen, dass man heute dazu in der Lage ist (bzw. sein könnte), sich zu verteidigen
und zu schützen, doch muss die Angst zuerst ernst genommen werden. Gefühle sind immer real, denn man fühlt sie ja. Gefühle können niemals falsch sein, egal wie schwer das Umfeld diese
nachvollziehen kann. Wurde die Angst anerkannt und mit der ursächlichen Situation verbunden, geht es darum, die Selbstwirksamkeit zu aktivieren und zu stärken. Denn wenn die Angst immer noch da
ist, habe ich wohl noch keine Lösung für mein Problem gefunden, d.h. ich weiß nicht, was ich tun kann, um den Konflikt zu lösen. Oder mein Erwachsenenverstand weiß es, aber mein inneres Kind
blockiert mit seiner Angst ein mögliches lösungsorientiertes Verhalten. Weil die positive Erfahrung dazu fehlt. Die Angst vor Zerstörung ist so groß, dass der Erwachsene nicht handeln kann. Das
klingt dramatisch, aber ich glaube, dass es am Ende immer um Zerstörung seiner selbst geht.
Hier mal ein konkretes Beispiel: Jemand überschreitet massiv meine Grenzen, mischt sich in meine Angelegenheiten ein und verurteilt mein Handeln, ohne mit mir darüber gesprochen zu haben (und
weil er einfach der Meinung ist, Recht zu haben). Ich werde unter Druck gesetzt, etwas zu tun, was ich nicht tun will, weil ich einen anderen Plan habe, den ich für besser halte. Eine solche
Situation triggert eine ganze Reihe von Momenten aus meiner Kindheit. Als Kind habe ich gelernt, dass ich falsch bin mit allem was ich denke, fühle und bin, dass ich unfähig, zu schwach und nicht
alleine lebensfähig bin, dass meine Entscheidungen dumm sind... Vor allem habe ich gelernt, dass ich auf die anklagende Person hören muss, weil ich sonst durch Liebesentzug und erhöhtem Druck
zerstört werde. Alle meine Versuche, trotzdem ich zu sein und meine Entscheidung durchzusetzen, enden mit Ablehnung, Verachtung und Verbannung. Ein Kind kann damit nicht leben. Ein Erwachsener
findet das auch nicht toll, aber er ist eher dazu in der Lage, sich innerlich zu stabilisieren und sich nicht daran aufzuhalten, was andere von ihm denken. Er kann sich andere Menschen suchen,
die ihn anerkennen. Ein Kind kann sich seine Familie nicht aussuchen.
Die Lösung für mich als Erwachsene lautet Grenzen setzen. Das habe ich aber nicht gelernt. Oder anders formuliert: Ich habe gelernt, dass Grenzen setzen nicht erlaubt ist und bestraft wird.
Infolgedessen erstarre ich innerlich in Angst und fühle mich bedroht. Diese Angst als unreal zu bezeichnen, ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann. Denn tatsächlich kann es passieren, dass
ich noch mehr beschimpft und unter Druck gesetzt werde, wenn ich nicht nachgebe und stattdessen Grenzen setze. Ich habe jedoch nun die Gelegenheit, neue Erfahrungen zu machen. Hoffentlich.
Grenzen setzen ist immer noch meine Königsdisziplin. Mit Hilfe meiner Therapeutin hecke ich also einen Schlachtplan aus, stelle fest, dass meine Ansprüche an mich bezüglich Korrektheit und Stärke
viel zu hoch sind, und wage ein selbstwirksames, eigenverantwortliches Handeln. Es fühlt sich fremd und merkwürdig an. Und ständig begleitet mich die Frage: Darf ich das? Tue ich der Person nicht
vielleicht unrecht?
Dann der wunderbare Lerneffekt: Die Person schweigt. Sie ist nicht mit mir einverstanden, sie wirkt äußerst verärgert und ignoriert mich. UND ES IST MIR EGAL. Meine Angst, dass andere Menschen
sich ihr anschließen und ich vor einem Tribunal stehe, bestätigt sich nicht. Mein Magen ist immer noch verkrampft, es fühlt sich immer noch alles surreal an aber irgendwie auch gut. Meine Angst
ist damit nicht endgültig verschwunden. Aber ich kann auf diese positive Erfahrung aufbauen und jederzeit zurückgreifen. "Und beim nächsten Mal gehts dann schief..." moniert mein inneres Kind.
Dann holen wir uns halt wieder therapeutische Unterstützung.
Einem Patienten mit ungelösten Ängsten (Traumata) aus der Kindheit zu sagen, seine Ängste seien nicht real und er solle sie loslassen und die Verantwortung für sein Leben übernehmen, bedeutet,
einen Jungen auszuschicken, die Arbeit eines Mannes zu erledigen. Es ist schlichtergreifend eine gnadenlose Überforderung, die zur Retraumatisierung führen kann.
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