So oft lese ich von Tipps, wie man die Depression oder Angst loswerden kann, von Ritualen, in denen blockierende Glaubenssätze und andere unliebsame Dinge verbrannt werden sollen, um sie ein für allemal aus seinem Leben und seinem Ich zu verbannen. Solche Rituale finden übrigens nicht nur in schamanischem Kontext statt sondern durchaus auch in psychotherapeutischem Setting. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir Patienten in der Klinik einmal pro Woche abends ein Feuer entfachen und dort Bilder aus der Kunsttherapie und beschriebene Zettel oder therapeutische Briefe hineinwerfen durften. Ich habe das auch schon oft gemacht und finde es weder schlecht noch falsch. Nur stelle ich mir immer häufiger die Frage, ob das immer so sinnvoll ist und ob es nicht noch andere Möglichkeiten gibt. Etwas loszuwerden, das doch irgendwie zu mir gehört, fühlt sich für mich wie Abspaltung an. Und das hat mir in der Vergangenheit eher nicht gut getan. Gleichzeitig gibt es natürlich schon auch Lebensthemen, die vorbei sind und zurückgelassen werden dürfen, weil sie ansonsten nur eine unnötige Belastung darstellen würden. Was also wann angebracht ist, kann nur jeder für sich entscheiden. Manches darf sich durchaus in Rauch auflösen. Aber das, was ich so sehr assimiliert habe, dass es zu einem Teil von mir geworden ist, lässt sich meiner Meinung nach nicht einfach verbannen. Ich halte das auch nicht für gesund. Das, was ich an meiner Persönlichkeit, meinen Gefühlen, meinen Verhaltensmustern als negativ empfinde, sind meine Schatten. Und je mehr ich sie verleugne, mich gegen sie wehre und sie auslöschen will, desto größer und aggressiver werden sie. Ich kann sie symbolisch verbrennen. Aber wenn ich mich nicht mit ihnen auseinandersetze, lauern sie mir an der nächsten Ecke wieder auf. Sie wollen beachtet und angeschaut werden, denn sie haben mir etwas zu sagen.
Depression ist natürlich eine Krankheit und gehört deshalb eigentlich nicht in diese Kategorie. Als Frau mit Dhysthymie muss ich trotzdem manchmal grinsen, wenn ich lese, wie man seine Depression loswerden kann. Klar kann ich etwas dafür tun, die Symptome in Schach zu halten. Klar fühle ich mich dann undepressiv. Und trotzdem ist sie unterschwellig immer da und beeinflusst meine Grundstimmung und meine Gedankenfarben. Sie wurde ein Teil von mir. Das macht die Sache ja so komplex und vertrackt. Bei einer zusätzlichen mittelgradigen Episode merke ich schon, was zur Depression gehört und was zu meiner Person. Aber im latent dhysthymen Alltag kann ich diese Grenze nicht so deutlich ziehen. Nach dem Motto "you can run but never hide" erscheinen mir jegliche Versuche des Loswerdens nicht nur sinnfrei sondern sogar gefährlich. Ich kann sie hassen, die Dhysthymie. Ich kann sie verfluchen und mein Dasein mit ihr im Gepäck bedauern. Aber sie immer wieder in den Keller, in die Dunkelheit schicken, macht sie nicht weg. Das macht sie für mich eher unheimlicher und weniger greifbar. Ich will sie sehen und wissen, wo sie sich aufhält. Nein, kontrollieren kann ich sie auch nicht wirklich. Aber ich kann mit ihr im Kontakt bleiben. Dann bin ich auch mit mir selbst in Verbindung und eben nicht gespalten.
Ich stelle mir das so vor, dass ich mit all meinen Anteilen und inneren Stimmen - meiner gesamten Persönlichkeit und Gefühlswelt in all ihren Aspekten und Erscheinungsformen - in einem Auto sitze und damit auf der Straße des Lebens fahre. Also eigentlich ist es ein Bus. Vielleicht sogar ein Doppeldecker. Egal. Das wichtigste ist, wer am Steuer sitzt! Und das sollte ich sein! Ich mit einer gesunden Verbindung zwischen Herz und Verstand. Der Rest von mir sitzt auf der Rückbank, manche auch gerne im Kofferrraum, um beim einfacheren Bild des Autos zu bleiben. Auf meiner Rückbank sitzen also Dhysthymie und Angst. Der innere Richter schleicht sich immer wieder auf den Beifahrersitz, den ich aber eigentlich für meine Intuition reserviert habe. "Mann, fährst du scheiße!" motzt mein innerer Richter. "Wir bauen bestimmt einen Unfall und werden alle sterben!" heult die Angst. "Auch schon egal. Hat eh alles keinen Sinn. Dann ist es wenigstens endlich vorbei." lamentiert die Dhysthymie. So in etwa kann man sich das klischeehaft vorstellen und lassen sich tatsächlich erschreckenderweise viele meiner Situationen sehr vereinfacht herunterbrechen. Dass man eine solche Reisegesellschaft am liebsten bei voller Fahrt aus dem Auto schmeißen möchte, ist verständlich. Aber so einfach ist es leider nicht. Und außerdem sitzen ja noch viel mehr Leute da wie u.a. das innere Kind, bei dem ich mir überhaupt nicht sicher bin, wo ich es hinsetzen soll. Gehört es auf den Beifahrersitz? Auf meinen Schoß? Zwischen Dyhsthymie und Angst will ich es nicht quetschen. Hm, ich kann mich nicht so recht entscheiden. Soll ich den inneren Richter ins Handschuhfach stecken? Auf die Motorhaube schnallen? Es bleibt ohnehin alles recht dynamisch in meinem Lebensvehikel. Jeder meint, mir mal ins Lenkrad greifen zu müssen. Die Angst tritt ständig auf die Bremse. Die Dhysthymie beschreibt die vorbeiziehende Landschaft in düsteren Farben. Und der innere Richter haut mir sämtliche Glaubenssätze um die Ohren und blockiert damit die Kupplung. Herz und Verstand streiten sich ums Gaspedal. Die flüsternde Intuition wird von dem ganzen Geschrei übertönt. "RUHE, VERDAMMT NOCHMAL!!! HIER WIRD MAN JA BEKLOPPT!!!" Oft bin ich so sehr damit beschäftigt, zu fahren und auf die Straße zu schauen, dass ich gar nicht weiß, wer da gerade spricht. Dann empfiehlt es sich, kurz anzuhalten und das zu klären. Und irgendeiner muss sowieso immer Pipi. Außerdem hat das innere Kind mal wieder Hunger.
Die Angst gehört seit Beginn der Menschheit zum Leben dazu. Die kann und sollte man gar nicht loswerden. Sie ist nützlich. Sie darf nur nicht zum ständigen Bremsklotz werden und die Lebensqualität einschränken. Wenn ich meiner Angst zuhöre, spricht am Ende fast immer mein inneres Kind, das diese Ängste aus traumatisierenden Situationen entwickelt hat. Die Dhysthymie ist von Natur aus chronisch und für mich zu einem wichtigen Alarmsystem geworden. Wenn sie sich meldet, bin ich irgendwo falsch abgebogen (meistens auf die Ja-Straße statt auf die Nein-Straße) oder habe ein Schild übersehen. Auch hier steckt oft mein inneres Kind dahinter, das verstummt ist, weil Grenzen überschritten wurden. Als Erwachsene ist es meine Aufgabe und Verantwortung, für die Einhaltung dieser Grenzen zu sorgen, so gut es geht. Versäume ich das, klopft mir die Dhysthymie vom Rücksitz aus auf die Schulter. Ignoriere ich das, bekomme ich irgendwann Nackenschmerzen.
Was oft auf Zetteln landet, die verbrannt werden sollen, sind negative Glaubenssätze - das, was der innere Richter zum Besten gibt, wenn das Herz oder das innere Kind einen Wunsch geäußert haben. "Du bist nicht gut genug" ist ein weit verbreiteter Standardsatz. Warum sollte man den behalten wollen? Warum sollte man überhaupt den inneren Richter nicht einfach an der nächsten Raststättentoilette "vergessen"? Ich glaube, der innere Richter steckt im Autoradio, ist also fest verbaut. Und eigentlich will er uns gar nichts Böses. Fällt schwer zu glauben. Ich weiß. Aber in Wahrheit will er uns beschützen. Das tut er nur auf ziemlich bescheuerte Weise. Er will uns vor Enttäuschung und Verletzung bewahren. Indem er uns einredet, dass wir unsere Träume sowieso nicht erfüllen können, weil... , verhindert er, dass wir uns aktiv in diese Richtung bewegen und vielleicht scheitern. Denn das wäre eine Katastrophe und würde uns zerstören. Sagt die Angst. Es soll uns also nichts passieren. Das ist nett. Aber halt auch langweilig und alles andere als lebendig. Negative Glaubenssätze werden uns als Kinder wörtlich oder nonverbal von Erwachsenen vermittelt und eingetrichtert. Sie kommen also von außen. Und trotzdem machen wir sie uns über all die Jahre zu Eigen. Bis sie zu uns gehören. Wir glauben an sie. Wir glauben dem inneren Richter. Ich kann diese behindernden Glaubenssätze loswerden wollen oder die Frequenz des Autoradios ändern. Ich kann nicht einfach vergessen, was mir eingeimpft wurde. Das bleibt für immer in meinem System. Aber ich kann am Senderknopf drehen und mir die Musik aussuchen, die ich auf meinem Roadtrip hören will. Das klingt so herrlich einfach. Ich weiß, dass es das nicht ist.
Nach all den Jahren Therapieerfahrung komme ich immer häufiger zu der Idee, dass "etwas wegmachen wollen" zur Abspaltung führt und dass es vielmehr um Integration gehen darf. Das bedeutet nun wieder Akzeptanz und Annahme, was im Grunde nichts Neues ist. Mir geht es aber darum, dass ich all dem, was in mir so wütet, für Chaos sorgt oder unangenehm ist, noch tiefer auf den Grund gehen will. Die Fäden verfolgen bis zur Wurzel und den sogenannten Dämonen dabei zuschauen, wie sie zur Größe eines Kindes schrumpfen - meines inneren Kindes. Anstatt dies alles loszuwerden und im Feuer zu verbrennen, um es anschließend in alle vier Winde zu verstreuen, möchte ich lieber versuchen, es umzuwandeln. Ich möchte es nicht weit weg bringen, wie es für solche Rituale empfohlen wird. Denn ich weiß, dass es den Weg zu mir zurück findet. Wie eine verloren geglaubte Katze, die nach Monaten plötzlich vor der Tür steht. Ich versuche es diesmal mit meinem Komposthaufen in meinem Garten. Dort darf sich der organische Abfall zersetzen und verwandeln, damit er zu fruchtbarer Erde wird für neue Saat, die ich mir diesmal selbst aussuche.
Das ist nun alles sehr bildhaft. Konkret meine ich damit, dass ich mich aktiv mit meinen Glaubenssätzen oder Schatten auseinandersetze und mich mit meinem inneren Kind befasse. Das ist nicht die schnellste Art. Aber ich glaube, sie ist tiefgreifend und nachhaltig. Wenn mein innerer Richter oder Kritiker mir einredet "Du schaffst das nicht allein!", schiebe ich ihn beiseite, um freie Sicht auf mein inneres Kind zu bekommen. Das hat diesen Satz nämlich ganz oft hören müssen. Selbst als Erwachsene wird mir das noch gesagt. Und es macht mich wütend. Die Kleine in mir ist dann richtig angepisst, weil man ihr nichts zutraut. Sie ist auch ein wenig unsicher, weshalb die Angst dem inneren Kritiker beipflichtet, dass es bestimmt zu schwer ist und am Ende noch was Schlimmes passiert. Aber mein inneres Kind möchte wachsen und sich ausprobieren. Höre ich auf die Angst und den Kritiker, kommt kurz darauf die Dhysthymie auf die Bühne und singt ihre Arie von der Hilflosigkeit und der Unveränderbarkeit aller Dinge. Also bin ich als Erwachsene gefragt, eine Entscheidung zu treffen und die Kleine in mir zu ermutigen und zu unterstützen - was mir eben als Kind gefehlt hat. Kritiker und Angst bekommen ein Heißgetränk mit Keks und haben kurz Sendepause. "Ich weiß, ihr meint es gut. Und vielleicht geht es tatsächlich schief. Wir wollen es trotzdem ausprobieren!" Natürlich können die beiden es nicht lassen, währenddessen jeden Handgriff zu kommentieren. Aber wenn sie sehen, dass ich es sehr wohl alleine schaffe, verstummen sie nach und nach. Vielleicht ist das Ergebnis nicht perfekt. Aber das muss es auch gar nicht. Und mit der Zeit merke ich, dass ich schneller durchschaue, was in mir passiert, und dass ich bei dem Satz "Das schaffst du nicht allein. Dafür brauchst du Hilfe." erst recht Lust bekomme, es zu probieren. Bisher war ich immer erfolgreich. Hilfe holen ist gut, doch sollte die Hilfe nicht klein halten und die Selbstwirksamkeit untergraben.
Würde ich meine Schatten und Glaubenssätze verbrennen, wären sie scheinbar weg. Im ersten Moment würde ich aufatmen. Nur um kurze Zeit später festzustellen, dass sie sich lediglich im Kugellager eingenistet haben. Im Dunkeln außer Sichtweite. Und von dort aus treiben sie ihr gefährliches Unwesen. Unerkannt, weil nicht in die Fahrgemeinschaft aufgenommen und integriert. Es ist anstrengender, sich immer und immer wieder mit ihnen auseinanderzusetzen. Aber für mich ist es der beste und erfolgversprechendste Weg.
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Olivka (Samstag, 06 März 2021 09:18)
Vielen Dank für diesen Beitrag! Du beschreibst das so wunderbar, diese vielen Stimmen, der Versuch zu sortieren wer denn jetzt eigentlich was sagt. Ich gehe gerade einen ähnlichen Weg und es tut so gut, zu hören, dass es anderen Menschen ganz genauso geht!
Viele Grüße!
Veronika (Mittwoch, 24 März 2021 20:11)
Habe deinen Blog heute entdeckt. Die Texte sind sooo gut!
Anna (Montag, 20 September 2021 19:29)
Ich habe Deinen Blog heute finden dürfen - es erscheint mit schon jetzt (nach dem Lesen von 3 Beiträgen) als eines der größten Geschenke die ich bekommen konnte.
Deine Texte tun mir gut - und das kann ich nicht von vielen Dingen sagen. Du hast mir auf dem Weg zum Umgang mit meiner Depression eine Tür aufgemacht.
Toderascu (Samstag, 26 März 2022 16:38)
Hello
Nice too meet you
I have depresion
Sever
20 years
Alone in the dark