Vor einigen Jahren habe ich Kyudo, japanisches Bogenschießen, gelernt. Leider habe ich nach 2 Jahren damit aufgehört, weil ich einfach nicht der Vereinsmensch bin und es mich zu sehr stresste,
nach der menschlastigen Arbeit noch irgendwo hinzufahren, wo ich wieder auf Menschen treffe. Dennoch ist mir eine Sache vom Kyudo geblieben - das Zanshin.
Der Ablauf des Spannens und Schießens ist in mehrere Schritte eingeteilt, die jeweils einen Namen haben. Das Zanshin ist der letzte Schritt, obwohl bei dem nicht viel passiert. Es ist das
Innehalten im verbleibenden Geist nach dem Schuss. In einer Kyudo-Zeitschrift las ich, dass dieses Zanshin auch im Alltag geübt werden kann und nicht nur ein Innehalten nach einer Handlung
bedeutet sondern auch vor einer Aktion.
Es gibt viele Achtsamkeitsübungen, die alle darauf abzielen, sich den gegenwärtigen Moment bewusst zu machen und sich im Hier und Jetzt zu verankern. Es geht um Entschleunigung im Alltag, weshalb
gerade Burnout-Patienten dazu geraten wird.
Ich habe festgestellt, dass sich ein depressives Tief bei mir mit Verzettelung im Alltag ankündigt. Ich fühle mich verloren und fange mehrere Dinge gleichzeitig an, ohne irgend etwas davon zu
meiner Zufriedenheit zu beenden. Ich möchte zum Beispiel dreckige Wäsche sortieren, hole den Wäschekorb aus dem Schrank um bemerke die Katzenstreukrümel auf dem Boden. Also hole ich den
Staubsauger, weil ich die Streu nicht überall verteilen will, indem ich mehrmals hindurchlaufe. Dann fällt mir auf, dass das Bett nochmal frisch bezogen werden könnte. Das sollte ich natürlich
besser vor dem Staubsaugen machen. Also ziehe ich das Bett ab und will die Wäsche in den Korb stopfen. Dabei wollte ich doch zuerst sortieren und eigentlich Buntwäsche machen. Weil die
Katzenstreu noch auf dem Boden liegt, muss ich aufpassen, wo ich hintrete. Es entsteht Chaos, und ich spüre, wie sich die Überforderung ankündigt. Denn eigentlich habe ich auch Hunger, aber ich
möchte das hier zuerst fertig machen. Nur werde ich so halt nicht fertig, weil mir immer noch etwas auffällt, was mal eben schnell erledigt werden müsste. Dieses Verzetteln führt auch zur
Depressionsdemenz oder verstärkt sie. Wichtige Dinge, an die ich denken sollte, wie ein Anruf oder das Bezahlen einer Rechnung gehen darin unter.
Zanshin hilft mir dabei, mich zu fokussieren. Und es braucht überhaupt nicht viel dafür. Einfach nur einen Moment innehalten und atmen, bevor ich etwas beginne. Das beruhigt das Chaos in meinem
Kopf und verhindert so, dass es sich im außen manifestiert. Denn durch diese kleine Zeitspanne des Nichtstuns kann ich mich innerlich sammeln und ordnen. Ich bleibe bei meiner ursprünglichen Idee
und führe sie zu Ende. Alles, was mir währenddessen an Aufgaben auffällt, erledige ich danach. Einen Schritt nach dem anderen. So gibt es kein Verzetteln und keine Überforderung, die zu einem
Overload oder einem Meltdown führen könnte. Und durch die entspanntere Ordnung im Kopf nimmt auch die Vergesslichkeit ab.
Es klingt so einfach und belanglos und ist doch so wirkungsvoll. Wahrscheinlich denkt ihr jetzt, dass das doch nichts Neues ist. Ist es auch nicht. Aber wir vergessen es viel zu oft. Besonders im
Arbeitsalltag ist meistens Multitasking gefragt. Ich bin mittlerweile ein entschiedener Gegner von Multitasking. Das führt nur zu Hektik und Stress. Auch wenn es sich vielleicht manchmal nicht
vermeiden lässt (ich glaube, vor allem Mütter werden das kennen), ist es doch weitaus öfter möglich, als man denkt.
Mir hilft dieses Zanshin, weil es sich so einfach in den Alltag integrieren lässt. Übungen, für die man sich Extrazeit nehmen muss und die vom üblichen Geschehen abgekoppelt sind, mache ich nach
1-2 mal nicht mehr. Das wird mir dann eher lästig, als dass es nützt. Und Zanshin dauert nur ein paar Sekunden, kann aber beliebig oft am Tag wiederholt werden. So wirkt es für mich nachhaltiger,
als einmal täglich für eine halbe Stunde irgendwas zu üben und anschließend wieder in den Alltag überzugehen.
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