"Booste deine Energie!"
"Wie AUCH DU in deine Kraft kommst"
"Hör auf zu jammern und fang endlich an zu leben!"
"Entscheide dich JETZT, deine blockierenden Glaubenssätze loszulassen!"
Solche Sprüche begegnen mir immer wieder bei Coaches, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, anderen Menschen zu ihrem beruflichen Erfolg zu verhelfen. Oft haben diese Coaches eine eigene Leidensgeschichte, aus der sie glorreich hervorgegangen sind. Und nun möchten sie dies mit allen teilen. Das ist schön. An diesen Sprüchen ist auch nicht wirklich etwas Falsches dran. Negative Glaubenssätze transformieren finde ich großartig. Und ja, ich will endlich wieder in meine Kraft kommen. War ich das überhaupt jemals? Ich weiß es nicht. Und was will ich denn eigentlich? Das ist ja gerade das Problem. "Lebe deine Träume!" Und wenn ich keine habe? Oder sie mir nicht bewusst sind? Vielleicht sind meine Träume auch gar nicht so groß wie ein dickes Business aufbauen und reich werden. Es ist prima, wenn sich jemand davon angesprochen fühlt, ein Coaching bucht und tatsächlich in seine Kraft findet, sein Leben nach seinen luxuriösen Wünschen und Träumen zu gestalten. Bin ich neidisch? Ein bisschen vielleicht. Will ich auch so sein? Nein, das will ich nicht. Das bin ich nicht.
Ich bin nicht laut. Ich bin kein Platzhirsch. Ich bin keine Rampensau. Ich bin keine coole Businessfrau. "Komm mal aus dir heraus!" Ich fühle mich aber ganz wohl hier in mir drin. Muss ich mich jetzt wieder falsch fühlen? Ich bin halt leise. Oder anders laut. Ich kann sehr laut schweigen. Und meine stärkste Kraft ist mein rebellischer Widerstand. Ob mir das immer so dienlich ist, sei dahingestellt. Aber immerhin habe ich Kraft.
Ich halte nichts von Crash-Kursen in Sachen Persönlichkeitsentwicklung. Ich habe mal an einem teilgenommen. Zu der Zeit wusste ich noch nichts von meiner Depression, nur dass es mir nicht so gut geht. Das Konzept kam aus Amerika und hielt ein paar gute Ansätze bereit. Und doch konnte es mich nicht nachhaltig transformieren. So ein Hauruck-Verfahren kann nicht in die Tiefe gehen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Wenn dich im richtigen Moment die richtige Erfahrung oder der richtige Satz trifft, kann dies Welten verändern. Das halte ich für möglich. Dass im Kopf - und im Unterbewusstsein - einfach etwas einrastet. Es hätte der richtige Moment für mich sein können. Leider habe ich das Seminar als künstliches Über-mich-hinauswachsen empfunden, welches durch emotionales Pushen geschah. Es wurde geweint, geschrien, getanzt und getobt. Tschakka, tschakka, tschakka! Es entsprach mir nicht. Es war wie ein Rausch und hielt nicht an.
Mein Körper zwingt mich gerade mal wieder, sehr langsam zu machen. Langsame und behutsame Bewegungen. Nicht mal Yoga ist drin. Und warum? Weil ich in einem komischen Anflug von "Jetzt wird's aber langsam Zeit, dass du was machst!" dachte, ich sei falsch, wie ich bin, und mir den letzten Halswirbel raushaute, mich im wahrsten Sinne des Wortes verrenkte. Weil ich dachte, ich müsse so sein, wie diese Business-Coaching-Frauen. Bin ich aber nicht. Und das ist in Ordnung. Ich kann zwar auch (immer noch) nicht sagen, was ich bin, aber eben keine laute Rampensau. Ich reise nicht gerne. Geld ist mir nur sekundär wichtig. Reichtum bedeutet für mich etwas anderes. Ich habe andere Prioritäten. Und Transformation braucht ihre Zeit.
Da gibt es eine Zen-Anekdote, die geht in etwa so: Ein Zen-Schüler fand im Garten des Klosters ein Kokon, das sich bewegte. Der Schmetterling wollte offensichtlich schlüpfen und wand sich wie in schrecklichen Qualen. Der Zen-Schüler wollte helfen, damit der Schmetterling schneller von seiner lästigen Hülle befreit würde. Und so pflückte er das Kokon vorsichtig Stück für Stück auf, so dass der Schmetterling hervorkriechen konnte. Höchst zufrieden mit sich und seiner guten Tat ging der Schüler zurück ins Kloster. Dort begrüßte ihn der Meister mit einer schallenden Ohrfeige. Der Schüler war entsetzt und verstand nicht, womit er das verdient hatte. Der Meister jedoch, der alles beobachtet hatte, hielt ihm den verkümmerten, toten Schmetterling hin und sagte: "Du hast ihn umgebracht! Du hast ihm nicht seine Zeit gelassen. Man kann eine Transformation nicht beschleunigen oder erzwingen. Alles und jedes hat seine Zeit. Dies ist deine Lektion für heute."
Ich mag inspirierende Seiten und Accounts, die einem Mut machen wollen. Weil ich daran glaube, dass man mit jedem Hindernis ein erfülltes Leben führen kann. Ich glaube an Transformation. Trotzdem erschrecken mich die lauten Tschakka-Rufe, die einen motivieren sollen. Also, bei mir geht da gar nix mehr. Ich erstarre nur, und mein Widerstand wird aktiv. Was mich nämlich so abschreckt, ist auch dieses "alles, was schlecht ist, wegmachen" wollen und nur noch gut drauf sein müssen. Immer voller Energie. "Was ist dein Ziel für den heutigen Tag?" Ich weiß nicht, wie es euch dabei geht, aber ich krieg davon Schnappatmung. Vielleicht liegt es nur an meinem doof programmierten Hirn, weil ich glaube, dass Ziele wie meditieren oder was besonders Leckeres kochen nicht zählen, weil sie so unbedeutend und alltäglich sind. Das muss immer gleich das große Ding sein.
Was mich besonders stört, ist diese Überzeugung, es sei alles nur eine Entscheidung. Sicher beginnt das meiste im Kopf. Keine Frage. Wir erschaffen unsere Realität mit unseren Gedanken. Aber Depression oder eine Traumafolgestörung ist keine Entscheidung. Ich kann eine Krankheit nicht wegentscheiden. Vielleicht meinen das viele Coaches auch gar nicht so bzw. haben sie schlichtweg keine fundierte Ahnung von psychischen Krankheiten. Aber es ist nun einmal so, dass Depressionen immer noch als selbstgewählter Pessimismus verstanden werden. Natürlich kann ich mich dafür entscheiden, Verantwortung für mich und meinen Heilungsprozess zu übernehmen. Ich kann mich dafür entscheiden, Therapie zu machen, um mit meiner Depression bestmöglich leben zu lernen. Ich kann an meinen Glaubenssätzen arbeiten. Eine Depression ist aber mehr als nur ein Haufen negativer Glaubenssätze. Sie ist Erschöpfung auf allen Ebenen, körperlich, mental, emotional und seelisch. Und nur weil einer seine Depression mit Tschakka gelöscht hat, heißt das nun nicht, dass das bei allen funktioniert. Bei mir löst das sofort wieder Schuldgefühle und Selbsthass aus, weil ich das nicht schaffe. Nicht auf diese Weise. Bei einer ernsthaften psychischen Krankheit greifen gängige Coachingkonzepte meiner Meinung nach nicht. Und das bedeutet nicht, dass ich nicht will oder meine Depression krampfhaft festhalte. Mein schwarzer Hund läuft mittlerweile ohne Leine und hört aufs Wort. Sitz! Platz! Aus!
Ich kann trotzdem ein erfülltes Leben führen. Mein Licht kann trotzdem strahlen. Aber langsam. Wie so eine Sparglühbirne, die erst mit der Zeit ihre volle Leuchtkraft entwickelt. "Wie lange willst du noch darauf warten?" Hetz mich nicht! Es hat sich schon so unglaublich viel in mir bewegt. Das ist im Außen nicht sichtbar. Aber ICH weiß und spüre es. Und ich warte nicht, ich sitze im Kokon, transformiere vor mich hin und vertraue auf meine Intuition. Zu oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass ein erzwungener Schritt nach vorne mich wieder zurückwirft.
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Sofasophia (Montag, 10 Dezember 2018 15:11)
Danke, großes Dankeschön für diesen Text. So ähnlich schrieb ich neulich in mein Tagebuch.
Du spirchst mir, und bestimmt vielen, aus dem Herzen!
(Gerade in den alternativ-medizinischen Kreisen sind diese Du musst nur genug glauben und wollen-Phrasen weit verbreitet. Diesen Teil der alternativen Heilweisen halte ich bisweilen sogar für ziemlich gefährlich. Ansonsten ist mir ja alles Nicht-Chemische viel lieber ...)
Ulrike (Montag, 10 Dezember 2018 15:12)
Ja, ja, ja! Du bringst es auf den Punkt, großes Dankeschön dafür. Ich unterschreibe alles.
Weil mich diese Coachingsprüche so ankotzen, hab ich mich übrigens am zweiten Tag aus der Online-Depressionskonferenz ausgeklinkt. Wenn mir superduper fitte und ach so glückliche Menschen erzählen wollen, dass meine Depression entstanden ist, weil ich zu wenig Sport mache / zu wenig Spurenelemente oder Kräuter esse / nicht an mich glaube, dass aber eine Chance auf Heilung besteht, wenn ich all das ab sofort umsetze und jeden Tag meine - ach, nein: deren Glaubenssätze am offenen Fenster in die Welt rufe... dann bin ich raus. Das geht so meilenweit an meiner Wirklichkeit vorbei, dass ich nichtmal mehr lachen kann. Das übernimmt dann der schwarze Hund für mich.
Ich kümmer mich dann mal wieder um meinen Kokon.
Gute Besserung für den Halswirbel! <3
Trienchen (Dienstag, 11 Dezember 2018 09:32)
Oh danke. Wie toll ❤️
Genau so empfinde ich das auch ganz oft.
Yvonne (Mittwoch, 12 Dezember 2018 09:14)
Vielen Dank, ihr Lieben!
(Es ist so doof, dass ich eure Kommentare nicht direkt beantworten kann, sondern wie ein Blogbesucher einen neuen Kommentar verfassen muss. Naja.)
Da bin ich ja froh, dass ich mich gar nicht erst zum Depressionskongress angemeldet hatte. Ich kam gerade aus einem anderen Online-Kongress, aus dem dieser Artikel hier entstand. Und auch ein weiterer Kongress zum Thema Autoimmunkrankheiten hatte mich mehr genervt, als dass es mir was nützte. Siehe Artikel "Paléo olé".
Aber Sport, Spurenelemente und... äh... Kräuter sind doch so wichtig! Nahezu essentiell! *Ironie off*
Das sind alles nette Helfer für den einen oder anderen. Aber nichts davon heilt irgendwas. Ich fühle mich nach dem Yoga super. Für eine Stunde. Dann müsste ich eigentlich wieder Yoga machen, um in dieser Energie zu bleiben. Es ist mir trotzdem wichtig, was für meinen Körper zu tun, um auf Dauer (hoffentlich) weniger Schmerzen zu haben. Aber es macht meine Depression nicht weg. Das war auch gar nicht mein Plan dabei. Auch Spurenelemente und gesunde Ernährung sind ne feine Sache. Keine Frage. Ein Mangel an Vitamin D, B12 oder Magnesium kann tatsächlich depressive Verstimmungen verursachen. Aber daraus ein Heilsversprechen zu machen, ist für Menschen, die an tiefer sitzenden Depressionen leiden, eine Frechheit. Es bleibt alles schön an der Oberfläche und poliert Fassaden. Die Abgründe dahinter würden solche "Coaches" gar nicht aushalten. Da würden denen die Kräutersträußchen aus der Hand fallen. Ich bin übrigens eine richtige Kräuterhexe, stelle meinen Pferden selber Kräuterfutter zusammen, erfinde Räuchermischungen aus Kräutern und Harzen und habe einen kleinen Kräutergarten. Ich kann dir sagen, was gegen Husten hilft. Aber bei psychischen Krankheiten würde ich keine Heilsversprechen machen.
LaLuna (Sonntag, 16 Dezember 2018 15:00)
Jawoll! Ich unterschreibe hier alles mit! :-)
Leider. :-(
Ich meine, dass EINE Art (ich glaube das es verschiedene Arten gibt!) der Depression aus zu hohem Leistungsanspruch kommt. Und genau in die Kerbe schlagen dann diese Coaches-superduper-Sprücheklopfer. Und jeah man kennnt das Muster ja und schmeißt sich in das nächste Programm: ich muss endlich genug tun!!!
Um dann wieder mal zusammen zu klappen. Ahje. Ich hing lange in dieser Schleife. Manchmal gelingt mir da nun schon der Ausstieg.
Ich hab heute mithilfe eines Test eine Art Lebenszufriedenheit erstellt und alle Bereiche (Job, Beziehung usw. ) mal angeschaut. Ist ganz ok, würd ich sagen. MIT Depression/PTBS. Und nein, ich hab es mir darin nicht gemütlich gemacht. Aber ich lebe besser mit dieser Akzeptanz.
Schönen 3.Advent EUCH allen!
https://introvertiertblog.wordpress.com/
Clemens (Samstag, 22 Dezember 2018 10:51)
Ich möchte auch mal ein großes Dankeschön für diesen Beitrag an dich richten :-) Du sprichst mir einfach aus der Seele. Wenn ich diesen Text oder andere Blogeinträge von dir lese, fühle ich mich gerade während des lesens nicht mehr so einsam und "anders". Zu sehen, dass man mit seiner Sicht auf gewissen Dingen nicht alleine ist, hilft mir ungemein.
Liebe Grüße und frohe Weihnachten wünsche ich dir :-)