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Warum der Verstand bei Traumaintegration nicht viel nützt

Foto: Yvonne Reip
Foto: Yvonne Reip

Bei meinen Recherchen habe ich eine Webseite gefunden, die sehr gut erklärt, was ein Trauma ist, welche Arten von Trauma es gibt und welche Folgen daraus entstehen. Was mir an dieser Seite besonders gut gefällt, ist, dass die Autorin nicht auf die allseits bekannten Definitionen und Symptomlisten eingeht, sondern Trauma viel umfassender beschreibt, u.a. dass der Auslöser nicht immer eine Katastrophe sein muss und dass es viel mehr Symptome gibt, als in der ICD-10-Liste aufgeführt sind. Depressionen zum Beispiel zählt sie zu Traumasymptomen dazu. Sie ist ebenfalls der Meinung, dass hinter vielen Depressionen das Trauma nicht erkannt und infolgedessen nicht behandelt wird.

 

Interessant fand ich die Erklärung, warum der Verstand bei einer Traumaheilung oder -integration nicht hilfreich ist und warum wir Dinge tun, von denen wir wissen, dass sie bescheuert oder schlecht sind, sie aber trotzdem machen. Die Autorin beschreibt nur drei Gehirnregionen. Bei meiner Recherche stieß ich jedoch auf fünf Bereiche und sehr viel komplexere Erklärungen zu den verschiedenen Aufgaben und Verbindungen zwischen den Hirnregionen. Feststeht, dass die älteste Region, das Stammhirn, für unser Überleben zuständig ist und in Gefahrensituationen das Kommando übernimmt. Auch dann, wenn die Amygdala, die für die Angst und Gefahrenerkennung verantwortlich und teil des jüngeren limbischen Systems ist, fehlzündet. So eine Fehlzündung geschieht, wenn der Betroffene durch einen Reiz getriggert, also an das Trauma erinnert wird. Auf posttraumatische-belastungsstörung.com wird erklärt, was in unserem Gehirn bei einer Traumatisierung passiert und wie es in der Folge zu einer gestörten Verarbeitung kommt. Unser Verstand sitzt in der jüngsten Gehirnregion, dem Neocortex, in dem die Sinneswahrnehmungen, das Speichern von Informationen, Denken, Sprechen... stattfinden. Im Neocortex entsteht das Bewusstsein. Dieser Bereich wird bei Gefahr lahmgelegt. Wenn unsere Amygdala sagt: "Du stirbst gleich!", geht gar nichts mehr außer Reflexe, autonome Körperfunktionen und Instinkte. Da nützt es leider nichts, sich zu sagen, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben, auszurasten oder zu dissoziieren. Das passiert, ohne dass wir mit unserer Fähigkeit zu Denken gegensteuern können. Da helfen nur sogenannte Skills, also Fertigkeiten, die man als Betroffener lernt, um mit Triggern besser umgehen zu können. Das kann alles mögliche sein. Viele greifen zu Duftstoffen, Massagebällen oder etwas, das die Finger beschäftigt. Es geht darum, den ungünstigen Reizen, die Symptome auslösen, andere Reize entgegenzusetzen, damit die Amygdala zurückrudert mit ihrem Alarm und der Überlebensinstinkt gar nicht erst aktiviert wird. So verstehe ich das zumindest. Auf diese Weise bleibt der Verstand handlungsfähig. Ist der aber einmal ausgeschaltet, hilft kein gutes Zureden mehr. Dann tun wir Dinge, die wir nicht tun wollen, und stehen als Zuschauer hilflos daneben. Der Verstand ist zwar noch da und fragt sich, was passiert, aber er kann nicht eingreifen. Er hat einfach Sendepause.

 

Diese Erklärung macht auch deutlich, dass reine Gesprächstherapie bei Traumafolgestörungen nicht hilft. Man kann die gestörten und veränderten Verknüpfungen im Gehirn nicht mit Denken verändern. An dieser Stelle setzen Therapieformen wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) und SE (Somatic Experiencing) an.

 

Opfer von Gewalt werden oft gefragt, warum sie sich nicht gewehrt haben. Dies löst massive Schuldgefühle aus. Wenn die Bedrohung so stark ist, dass Flucht oder Angriff nicht möglich sind, erstarren und dissoziieren wir. Das Gehirn hilft uns, die Situation zu überleben - physisch und psychisch. Das Bewusstsein wird gedämpft, weshalb sich Opfer im Nachhinein nicht mehr vollständig erinnern können. Beim Erstarren entsteht jedoch das Trauma, weil wir hilflos und ohnmächtig die Gewalttat über uns ergehen lassen müssen. Der Körper und das Unterbewusstsein speichern das Geschehen. Aber immerhin leben wir noch. Geraten wir nun in eine triggernde Situation, setzt dieser Mechanismus wieder ein, und es kommt zur Dissoziation oder anderen posttraumatischen Reaktionen. Sich nicht gewehrt zu haben, ist Teil des Überlebensmechanismus und deshalb verdammt schlau von unserem Gehirn! Das sollte niemand hinterher in Frage stellen! Zumal das ja keine bewusste Entscheidung ist. Aus diesem Grund beantworten viele Opfer diese Frage mit: "Ich weiß es nicht. Ich konnte nicht." Ich finde, dass danach überhaupt nicht gefragt werden sollte. Wenn man Trauma versteht, dann leuchtet das doch ein. Einige Fachleute scheinen über dieses Thema so gar nicht bescheid zu wissen, was besonders erschreckend ist.

 

Es ist ganz schön peinlich, wenn einem sowas passiert. Also wenn das Stammhirn das Ruder an sich reißt und wir verrückte Dinge tun, obwohl der Verstand ruft: "Hör auf! Völlig unnötig!" Wenn wir aber alle wissen, was bei einem Trauma im Kopf passiert, gibt es eigentlich keinen Grund, sich dessen zu schämen oder jemanden komisch anzuschauen. Eigentlich. Es bleibt halt echt unangenehm. Dennoch finde ich es hilfreich, die Vorgänge in meinem Gehirn zu verstehen und zu wissen, dass mit Denken nichts auszurichten ist, dass ich also nichts dafür kann. Es bedeutet nicht, dass ich mich gehen lasse, mich nicht im Griff habe oder anstelle. Und es gibt andere Möglichkeiten, damit umzugehen. Es muss nur jeder für sich herausfinden, was ihm hilft.

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Kommentare: 1
  • #1

    Irma (Sonntag, 17 Februar 2019 19:14)

    Das ist ein Super Beitrag ! Vielen Dank !