Als ich den Film "Rapunzel - Neu verföhnt" gesehen habe, dachte ich in manchen Szenen, meine Mutter und mich zu sehen. Ich bin zwar keine Tiefenpsychologin, wage aber dennoch hier eine Deutung
(u.a. angelehnt an das Buch von Mathias Jung).
Dieses Märchen handelt von einer ungesunden Mutter-Tochter-Beziehung. Rapunzel wird als Baby ihren guten Eltern geraubt und wächst mit einer Hexe, die sich als Mutter ausgibt, eingesperrt in
einem Turm auf. Diese Hexe braucht Rapunzel, weil die magischen Kräfte ihrer Haare ewige Jugend verleihen. Täglich bürstet sie ihrer Gefangenen das Haar, um es zu berühren. Rapunzel muss
währenddessen ein Zauberlied singen. Sie tut ihrer Mutter diesen Gefallen, weil sie sie liebt und dabei selbst durch das Kämmen Zuwendung nach einem einsamen Tag erhält. Denn die Mutter bewegt
sich von morgens bis abends frei und gestärkt durch die Energie der Tochter draußen in der Welt, während das Kind ein Leben in Gefangenschaft und Sklaverei führt.
Es ist so deutlich zu erkennen, welche "Tricks" die Hexe anwendet, um Rapunzel klein zu halten, damit sie ihre vermeintliche Mutter nicht verlässt und ihr zu Diensten bleibt. Sie verdreht die
Tatsachen, indem sie Rapunzel die frühen Kindheitserinnerungen als Phantasien und Träumereien abspricht. Die Welt außerhalb des Turms ohne Treppe und Eingangstür beschreibt sie als böse und
gefährlich, um das Kind zu isolieren. Sich selbst stellt sie narzisstisch als allwissend und omnipotent dar, während sie Rapunzel abwertet. Sie gaukelt ihr vor, dies alles zu ihrem Schutz zu tun,
weil das Mädchen zu schwach und zu dumm sei, allein in der Welt zu bestehen. Mit Double-binds verwirrt sie Rapunzel gezielt und ruft somit ambivalente Gefühle in ihrer Tochter hervor. Durch das
Tätscheln von Rapunzels Kopf spielt sie Gutmütigkeit vor, berührt dabei unbemerkt ihr Haar und veranlasst sie, instinktiv den Kopf einzuziehen, was sie kleiner werden lässt. Die Hexe schwächt ihr
Opfer und raubt ihm die Lebensenergie, um sich selbst zu stärken, da ihr eine eigene Kraftquelle fehlt.
Doch Rapunzel hält an ihren Träumen und Wünschen fest. Eines Tages taucht ein Mann im Turm auf. Zuerst verprügelt und fesselt Rapunzel ihn, weil sie Angst vor ihm hat. Er kommt schließlich aus
der bösen Welt da draußen. Doch dann erkennt sie ihre Chance und zwingt ihn, sie mitzunehmen. Sie kann ihr Glück kaum fassen, als ihre nackten Füße zum ersten Mal das Gras berühren. Gleichzeitig
fühlt sie sich unendlich schuldig und befürchtet, ihre Mutter könne vor Sorge um sie sterben. "Ich bin eine schlechte Tochter!" wechselt im Sekundentakt mit "Ich bin frei!". Das Verlangen, ihrer
verschütteten Erinnerung auf die Spur zu kommen und die Lichter am Himmel zu finden, die jedes Jahr an ihrem Geburtstag aufsteigen, ist jedoch so stark, dass sie ihren Weg geht. Den Turm nimmt
sie aber im Inneren mit. Denn sie zweifelt immer wieder an sich: "Vielleicht hatte Mutter doch Recht?"
Außer sich vor Wut und aus Angst um ihre schwindende Jugend und Kraft zieht die Hexe los, um Rapunzel zurück in den Turm zu bringen. Perfide manipuliert sie das Mädchen durch Inszenierungen, die
ihre Unfähigkeiten bestätigen sollen. Ich hätte kotzen können, als Rapunzel ihrer Mutter dankbar und reumütig um den Hals fiel. Enttäuscht von sich, ihren Freunden und der Welt lässt sie
den Missbrauch wieder über sich ergehen. Aber irgend etwas hat sich in ihr bewegt. Schlussendlich kehrt die Erinnerung schlagartig zurück und Rapunzel erkennt, dass die Hexe nicht ihre Mutter
ist. Diese greift nun offen zu drastisch grausamen Mitteln. Ihr Freund, der sich als Prinz ausgegeben hat, in Wahrheit aber nur ein Dieb ist, hat Rapunzel nicht vergessen und eilt zur Rettung. Es
entbrennt ein harter Kampf, bei dem der junge Mann von der Hexe tödlich verletzt wird. Noch bevor Rapunzel ihn mit ihrem magischen Haar heilen kann, schneidet er es ihr in der Erkenntnis ab, dass
sie nur so befreit werden kann. Rapunzel, die ihre wahre Identität als Prinzessin erkannt hat, glaubt alles verloren. Dann stellt sie überrascht fest, dass ihre Tränen diesselbe heilende Wirkung
haben wie ihr Haar. Die Hexe ist derweil längst über den ellenlangen Haarschopf gestolpert und in Windeseile alternd vom Turm gestürzt, wobei sie beim Aufprall zu Staub zerfällt. Rapunzel und
ihre richtigen Eltern sind wieder vereint, und aus dem Dieb wird durch Heirat nun doch ein Prinz. Die Lichter waren übrigens Laternen, die das Königspaar alljährlich aufsteigen ließ, in der
Hoffnung, sie würden ihrem verlorenen Kind den Weg nach Hause weisen, was tatsächlich gelungen ist.
Ich finde es herzzerreissend, wie dieses starke Mädchen auf ihre verschüttete Erinnerung vertraut, befürchtet, sie würde ihre Mutter damit umbringen, wenn sie eigene Wege geht, und sich am Ende
gegen sie behauptet. Es ist zwar der Prinz (bzw. der Dieb), der ihr das Haar abschneidet, damit die Hexe keinen Grund mehr hat, Rapunzel zu verfolgen. Aber tiefenpsychologisch betrachtet steht
der Prinz für die inneren männlichen Anteile, also das Aggressive und Aktive. Durch diese Handlung wird die zerstörerische Verbindung abgeschnitten, und Rapunzel kann endlich ihr eigenes Leben in
emotionaler Freiheit beginnen.
Muss man sich also seiner guten Fähigkeiten entledigen, wegen derer man missbraucht wird? Nein, denn Rapunzels Tränen sind ja ebenso magisch wie ihr Haar. Die Trauer heilt und verhindert, dass
der befreiende männliche Anteil abstirbt. Denn mit der Trauer kommt auch die Wut - also die Energie, die für Veränderung nötig ist. Das ellenlange Haar steht wohl sinnbildlich für eine
überdimensionale Nabelschnur. Als Rapunzel erkennt, dass die Hexe nicht ihre Mutter ist und sie um ihr wahres Leben und Sein betrogen hat, befürchtet sie nicht mehr deren Tod. Aber sie hat Angst,
dass sie selbst sterben könnte, wenn sie die Nabelschnur durchtrennt. Doch es ist letztendlich der sie befreiende Schritt. Das Haar war nicht das Einzige, was ihre Identität ausmachte. Sie kann
immer noch für andere da sein, tut es aber nun freiwillig und lässt sich nicht mehr anzapfen. Das Abschneiden nimmt ihr gar nichts weg, sondern macht sie im Gegenteil ganz.
Im wahren Leben sind Hexe und Mutter ein und dieselbe Person. Eigentlich bewahrheitet sich am Ende Rapunzels Befürchtung, dass die Hexe ohne sie sterben könnte. Aber ich denke, dies bedeutet,
dass der negative Einfluss der Mutter "stirbt". Natürlich reagiert eine Mutter auf Abgrenzung verletzt. Dieser Schritt ist aber notwendig, um das eigene Leben bzw. die eigene Identität zu retten.
Die Mutter stirbt nicht wirklich. Sie wird auf sich selbst zurückgeworfen und erhält so ihrerseits die Chance, sich zu befreien. Oder auch nicht. Das ist dann aber ihre Entscheidung. Und
man selbst stirbt auch nicht, sondern kann endlich atmen und wachsen. Diese Angst zu überwinden, ist wohl eine der schwierigsten Aufgaben auf diesem Weg. Weil sie existentiell ist.
Allerdings frage ich mich, wofür die guten Eltern in diesem Märchen stehen. Ich wurde ja schließlich nicht adoptiert und habe irgendwo noch andere Eltern, die in meiner Phantasie ganz toll sind.
Wer lässt also in mir diese Laternen aufsteigen, um mich an meine wahre Identität zu erinnern und "nach Hause" zu holen?
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Phoenix (Samstag, 23 März 2019 17:07)
Zunächst einmal vielen Dank für deine Geschichte! Dein Blog hat mir die Augen geöffnet. Ich habe selbst Erfahrungen mit emotional missbrauchenden Eltern gemacht, habe es mir aber nicht eingestehen können und habe Jahre gebraucht, um meine Eltern klar sehen zu können. Ich nahm sie immer wieder in Schutz und entschuldigte ihr Verhalten. Mir ging es dann schlecht, aber ich konnte an der Lüge der Eltern, die es nur gut mit mir meinen, festhalten. Ich ließ meine Mutter - vielmehr den negativen Einfluss, den sie auf mich hatte - nicht sterben. Um damit auf deine Frage zurück zu kommen: Ich glaube, dass jedes Kind einen Vater und eine Mutter in sich selbst trägt, die es gut mit ihm meinen und die gut für es sind. Jedes Kind weiß, was eine gute Mutter und einen guten Vater ausmacht. Vielleicht wissen misshandelte Kinder das sogar besser als andere. Dieser innere Teil sucht das Beste für das Kind (oder später für den Erwachsenen). Ja, ich glaube sogar diese inneren Eltern lassen auf der Suche nach dem verlorenen Kind immer wieder Laternen aufsteigen, um ihm den Weg nach Hause zu zeigen.
In diesem Sinne bleib immer gut verföhnt! Eine gute Reise zu dir selbst!