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Nervige Schutzmechanismen würdigen

Bild: Pixabay
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Bei einer Traumatisierung spaltet sich die Persönlichkeit in 3 verschiedene Anteile. Der traumatisierte Anteil wird vom Überlebensanteil ins Unterbewusstsein verdrängt, damit der gesunde Anteil sein Leben fortführen kann. Dies ist nicht zu verwechseln mit einer multiplen Persönlichkeit oder einer dissoziativen Identitätsstörung, bei der Betroffene in verschiedenen Situationen unterschiedliche Persönlichkeiten mit jeweils eigenem Charakter zeigen. In diesem Fall hat sich die Spaltung bis zur letzten Konsequenz vollzogen, was bei besonders heftigen Traumata vorkommen kann.

Ich meine hier die Abspaltung traumatischer Erinnerungen mitsamt den Gefühlen und anderen Erfahrungsqualitäten, welche jedoch bereits zu den Dissoziationen gezählt wird. Hier kann man sich jetzt wieder in haarspalterische Diagnostik verlieren... Denn die Dissoziation ist ein weites Feld und äußert sich in unterschiedlichen Schweregraden.

Das Abspalten (oder die Dissoziation) ist ein Abwehrmechanismus und dient dem Schutz des gesunden Anteils. Nicht der verletzten Seele? Nein, denn der Traumaanteil lebt immer noch in der traumatisierenden Situation und ist in ihr gefangen wie in einer Dauerschleife. Damit der gesunde Anteil weiterleben kann, muss der verletzte Anteil verdrängt werden. Wird das traumatisierte Ich durch einen Triggerreiz aktiviert, bricht das gesunde Ich weg und verliert seine Stabilität. Das weiß der Überlebensanteil mit seinen kreativen Schutzmechanismen zu verhindern.

Es gibt viele Formen von Schutzmechanismen. Unseren Mitmenschen mögen sie als seltsame Macken erscheinen. Therapeuten würden sie vielleicht Neurosen nennen. Sie können sich aber auch zu einer ausgewachsenen Störung entwickeln. Sehr beliebt und mir selbst bekannt ist der Kontrollmechanismus. Schließlich erfährt man während des Traumas einen Kontrollverlust. Man empfindet absolut keine Selbstwirksamkeit. Dies versucht man dann, mit dem Kontrollieren an anderer Stelle zu kompensieren.

Bei mir äußert sich das so, dass ich unheimlich gerne Listen schreibe (Einkaufslisten ausgenommen - das halte ich für normal und sinnvoll). Außerdem plane ich gerne, wofür sich Listen auch wieder gut eignen. Und ich ordne. Alles muss eine erkennbare Struktur haben. Eine andere Person darf meine Sachen nicht ordnen. Sonst ist es mit Sicherheit falsch. Klingt alles nicht weiter schlimm. Stört auch nicht großartig im Alltag. Aber es lässt mich innerlich erstarren und macht mich teamunfähig. Auf der Arbeit wurden "meine" Sachen nämlich auch von Kollegen benutzt (Akten, Berichte...). Die konnten meinen Ärger so gar nicht nachvollziehen, wenn ich "wieder alles neu ordnen musste".

Viel schlimmer ist jedoch das innere Erstarren. Kontrolle verbietet Spontanität und schöpferisches Chaos. Bevor ich in Aktion trete, muss ich die Schritte planen. Das geht so lange, dass es gar nicht zur Aktion kommt. Neue Erfahrungen lassen sich schwer kontrollieren und sind deshalb zu vermeiden. "Lassen Sie los!" wurde mir immer wieder gesagt. "Ja, gleich! Ich schreib erst noch ne Pro- und Contraliste dazu..."

Mit diesem Schutzmechanismus stehe ich mir so oft selbst im Weg. Dann könnte ich mich dafür ohrfeigen. Aber Stopp! Das wäre ja nicht selbstliebend. Das Kontrollieren erfüllt einen wohlwollenden Zweck. Es will mich beschützen. Es hat mir geholfen zu überleben und Ordnung in ein bedrohliches Verwirrspiel gebracht. Klar ist es manchmal nervig, aber es verdient auch Würdigung und Anerkennung. Wenn andere mich deswegen auslachen, weil sie mein Verhalten seltsam finden, ärgert mich das. Sie können nicht nachvollziehen, warum ich das tue, und wie wichtig das für mich ist. Das ist nicht lustig! Das ist verdammt anstrengend. Und das Loslassen dieses Schutzmechanismus noch viel mehr. Dazu möchte ich auch von niemandem gedrängt werden. Und sei es noch so gut gemeint.

Egal wie uns der Überlebensanteil schützt, ohne ihn hätten wir nicht überlebt. Von kleinen seltsamen Macken über Neurosen bis hin zur handfesten Störung - so schwer unser Leben dadurch geworden sein mag - er arbeitet FÜR uns. Anstatt ihn zu verdammen, dürfen wir ihn durchaus würdigen. Seit ich das so sehe, muss ich immer häufiger selbst über mich schmunzeln. "Aha, da ist er ja wieder. Danke, ich glaube, ich versuch's mal ohne."

Mir ist bewusst, dass das von mir angeführte Beispiel eher ein niedliches Problem ist. Das Prinzip ist bei ernsthaft störenden Schutzmechanismen jedoch dasselbe, auch wenn es deutlich schwerer fällt, diese liebevoll zu würdigen. Sie zu bekämpfen lässt sie aber nur hartnäckiger und schlimmer werden.

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