Letzte Woche habe ich das Buch "Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst" von Alice Miller gelesen. Ich war sehr überrascht, dass es hauptsächlich um Narzissmus in
sämtlichen gesunden und ungesunden Formen ging. Außerdem war ich zunächst etwas enttäuscht über den recht theoretisch - psychoanalytischen Wortschatz. Aber spätestens ab Seite 57 hat es mich dann
gepackt. Zum Schluss konnte ich mich mit dem Thema Narzissmus ein wenig versöhnen.
Das Buch enthält 3 Abhandlungen über die Ursachen des Selbstverlustes und mögliche Wege der Selbstfindung mit den Titeln "Das Drama des begabten Kindes und die narzisstische Störung des
Psychoanalytikers", "Depression und Grandiosität als wesensverwandte Formen der narzisstischen Störung" (S. 57) und "Über die Verachtung". Ich wollte dieses Buch abwechselnd gegen die Tischkante
und meine Stirn schlagen - je nachdem, ob ich wütend auf die Autorin war, weil sie so gemeine Wahrheiten schreibt, oder ob ich mich ertappt fühlte und über mich selbst ärgerte.
Was allgemein unter Narzissmus verstanden wird, ist die Selbstverliebtheit also die Grandiosität. Der Betroffene fühlt sich innerlich so leer und unbedeutend, dass er ein falsches Selbst
"erfindet", das ihn erstrahlen lässt. Diese Menschen brauchen stetige Bewunderung und dulden keine Götter neben sich. Sie überschätzen sich und können keinerlei Kritik ertragen. Klingt nach einem
unangenehmen Zeitgenossen. Da ich mit einer narzisstischen Mutter aufgewachsen bin, habe ich eine Spezialantenne für derartige Persönlichkeiten - und eine sehr ablehnende Haltung diesen
gegenüber, welche von meinen seelischen Verletzungen herrührt. Schaut man aber hinter die Fassade und erhascht einen Blick in diese gähnende Leere, erkennt man für den Bruchteil einer Sekunde das
verletzte innere Kind, das völlig verloren und unendlich traurig aus der Wäsche guckt. Ja, Narzissten können einem auf die Nerven gehen, aber sie finden sich nicht wirklich toll und sind auch nur
Menschen, denen als Kinder großes Unrecht getan wurde.
Trotzdem wird der Begriff "Narzisst" gerne und schnell als Schimpfwort benutzt. Wer möchte schon als narzisstisch hingestellt werden? Mir wurde vor anderthalb Jahren eine solche
Persönlichkeitsstörung angedichtet. Weil ich begann, hier und da mal stolz auf kleine Erfolge zu sein. Weil ich meinen eigenen Weg ging und mir nicht reinreden ließ, sondern stattdessen
ausnahmsweise auf mich selbst vertraute. Das hat 2 Menschen nicht gefallen. Sie hätten es lieber gesehen, wenn ich mich ihnen untergeordnet und nur auf sie gehört hätte, weil sie die einzigen,
tollen, großartigen, allseits bekannten Experten waren. Weil ich das nicht einsehen wollte, haben sie mir die Hölle heiß gemacht und mich schlichtweg als krank und bekloppt bezeichnet. Mit so
etwas kann ich sehr schlecht umgehen, weil es an ganz alte Wunden rührt. Während gemeinsame Bekannte mit einer abwehrenden Geste meinten: "Vergiss die! Ist doch offensichtlich, dass die
spinnen!", knabbere ich immer noch an den Folgen dieser Begebenheit. Das kleine Pflänzchen "Ich finde mich mal angemessen toll" wurde niedergewalzt, und meine sozialen Ängste haben sich
gesteigert.
Umso mehr hat es mich deshalb beunruhigt, dass Depression als Kehrseite der Narzissmusmedaille deklariert wird. Der Betroffene findet sich nicht grandios toll, sondern eben grandios scheiße.
Während die Mitmenschen Fehler machen dürfen und wohlwollende Nachsicht erfahren, geht man mit sich selbst wegen genau derselben Fehler brutal ins Gericht. Verdammt! Erwischt!
Wie es zu einer Verletzung auf diesem Gebiet kommt, erklärt Alice Miller ausführlich anhand von Beispielen aus ihrer Praxis. Jeder hat das (narzisstische!) Bedürfnis nach Bestätigung, Anerkennung
und Lob, Erfolg, Liebe um seiner selbst Willen... Wenn man dies als Kind nicht ausreichend bekommt oder / und stattdessen verachtet und gedemütigt wurde, ist man so unsicher, dass eine kleine
Kritik bereits tödlich wirkt. Wenn man wie ich von der Mutter narzisstisch besetzt wurde, hat man kaum eine Chance, eine eigene Identität zu entwickeln. Dieser Vorgang wird auch Parentifizierung
genannt, d.h. Mutter und Kind tauschen die Rollen. Das kann auf vielfältige und oft subtile Weisen geschehen. Mit narzisstischer Besetzung ist jedenfalls gemeint, dass das Gegenüber als Teil der
eigenen Person betrachtet wird und ausschließlich der eigenen Bedürfnisbefriedigung dient. So sehen Säuglinge ihre Mütter in der symbiotischen Phase, und das ist in Ordnung. Wenn das sensible
Kind aber die Aufgabe übernimmt, für die emotionale Stabilität der Mutter zu sorgen, läuft etwas gewaltig schief. Tut das Kind das nicht, hat es keine stabile Mutter und fühlt sich in seiner
Existenz bedroht. Es opfert also sich selbst, um die Mutter zu erhalten und somit überleben zu können.
Alice Miller unterscheidet deutlich zwischen den üblichen, allgemeinen narzisstischen Bedürfnissen, der gesunden Befriedigung dieser Wünsche, narzisstischer Frustration und Verletzung sowie
krankhafter Grandiosität und Depression als Folgen tiefer seelischer Verwundung in diesem Bereich. Grundsätzlich sind wir alle ein wenig narzisstisch bzw. sollen und dürfen das sein. Das ist noch
keine Krankheit. Wir dürfen stolz auf uns sein, Erfolge genießen, uns mögen und auch mal toll finden und feiern. Der Spruch "Eigenlob stinkt." ist absolut kontraproduktiv. Wie soll ich bitte
erfolgreich sein, wenn ich nicht von mir und meinen Fähigkeiten überzeugt bin? Bescheiden sein bedeutet nicht, sich völlig scheiße zu finden. Es heißt, nicht zu prahlen und rumzuprotzen. Aber ich
darf sagen: Das kann ich gut und es wird mir gelingen. Wer mir das missgönnt oder gar verbietet, hat selbst ein großes narzisstisches Problem.
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