Der starke Wunsch nach Unabhängigkeit wird von Experten als Traumareaktion beschrieben. Dieser große Drang nach Freiheit gepaart mit dem Selbstverständnis, alles alleine zu bewältigen, verbirgt die Angst vor Abhängigkeit, Ohnmacht und Ablehnung oder Verlassenwerden. Außerdem will man niemandem zur Last fallen und schwach wirken. Die große Lektion für solche Menschen ist es, sich mit anderen zu verbinden und um Hilfe zu bitten. Dabei geht es nicht immer darum, dass man etwas alleine nicht schafft. Es geht auch darum, dass man das gar nicht muss. Es geht darum, Kontrolle abzugeben und sich tragen zu lassen in dem Vertrauen, dass alles in meinem Sinne geschieht. Total leichte Übung!
Als jemand, der traumatische Erfahrungen machen musste, fällt es mir ziemlich schwer, mich anderen anzuvertrauen, wenn ich Hilfe brauche. Besonders groß ist bei mir die Angst, eine Last zu sein, denn dies wurde mir häufiger vermittelt. Dass ich zuviel bin, zu kompliziert, zu anstrengend, zu schräg, zu fordernd. Es ist dann auch öfter vorgekommen, dass sich Menschen von mir abgewand haben, nur um Monate später wieder aufzutauchen in der Erwartung, dass es jetzt wieder leicht mit mir ist. Wer nicht in schweren Momenten zu mir stehen kann, den brauche ich bei Sonnenschein auch nicht mehr. Da bin ich mittlerweile kompromisslos geworden. Und ich meine das gar nicht vorwurfsvoll. Das sind nur einfach Menschen, die nicht in meinen inneren Kreis passen. Die Resonanz stimmt für mich nicht. Hat es nie. Ich habe es nur immer entschuldigt, weil es ja an mir lag. Weil ich eben eine Last bin.
Natürlich muss sich mein Herz nach großen Enttäuschungen oder Schicksalsschlägen auch erstmal erholen. Dann ziehe ich mich zurück und bin nicht so offen für neue Kontakte. Das finde ich völlig legitim. Nach einer körperlichen Verletzung muss man sich ja auch schonen und regenieren, bevor man sich wieder bewegt und belastet. Die Schonhaltung darf nur nicht aufgrund des Schmerzgedächtnisses zum Dauerzustand werden.
Meine andere große Angst ist, dass mein Bedürfnis nicht gehört oder berücksichtigt wird. Es darf zwar jeder nein sagen, aber es ist halt blöd, wenn das dann auch jeder tut und ich am Ende alleine da stehe. Noch schlimmer finde ich es, wenn jemand mir nicht so hilft, wie ich es brauche, sondern sein eigenes Projekt draus macht und meine Grenzen überschreitet oder Sorgfalt nicht so wichtig nimmt wie ich. Und richtig nervig finde ich es, wenn ich immer wieder vertröstet werde. Dann suche ich mir lieber das passende YouTube-Tutorial von Handwerkern raus und erledige es selbst.
Was mich besonders stresst, ist das Gefühl, etwas schuldig zu sein und nichts Gleichwertiges zurückgeben zu können. Es gibt Menschen, die ihre Hilfe nahezu aufdrängen und einen dann später immer wieder damit erpressen. Meine Schwierigkeiten, nein zu sagen, potenzieren sich ins Unendliche, wenn mir jemand geholfen hat und mich dann um etwas bittet, das ich nicht tun will. In mir hat sich die Überzeugung festgesetzt, dass ich so jemandem alles schuldig bin. Und um nicht in diese Situation zu geraten, frage ich lieber gar nicht erst nach Hilfe.
Ich bin mir dessen bewusst, dass dies Traumareaktionen und Schutzmechanismen sind. Ich habe ein paar wenige Menschen in meinem Umfeld, mit denen ich mich sicher genug fühle, das "um Hilfe bitten" zu üben. Aber da gibt es noch einen anderen Aspekt, der dazu führt, dass ich es meistens doch nicht tue. Ich WILL es alleine schaffen. Ich WILL es selbst machen. Ich bin viel zu oft in meinem Leben unterschätzt worden, habe eingeredet bekommen, dass ich zu klein, zu schwach, zu dumm bin, um etwas alleine hinzukriegen. Habe Projektionsfläche gespielt für all die selbstempfundenen, aber abgespaltenen Unzulänglichkeitsgefühle anderer Leute. Und mir all diese unpassenden Schuhe angezogen. Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, Einfluss auf mein Leben zu haben, ist eine sehr wichtige Erfahrung in der Traumaheilung. Die hat man durch wiederholte Erfahrungen von Ohnmacht nämlich verloren. Und genau deshalb ist es mir so wichtig, vieles selbst in die Hand zu nehmen. Der Stolz über mein eigenes Werk hinterher ist ein sehr gutes Gefühl. Als würde ich jedes Mal um einen Zentimeter wachsen.
Es geht letzten Endes darum, das richtige Gleichgewicht zu finden. Ich darf Dinge wie Möbel kaufen und aufbauen oder Bäume beschneiden alleine machen. Aber es ist auch wichtig, meine körperlichen Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren und für die schweren Sachen Hilfe zu holen. Ich darf meine Spontanität leben und Ideen sofort umsetzen, für die andere vielleicht Unterstützung brauchen würden. Und ich darf mich in Geduld üben, wenn ich es eben doch nicht alleine schaffe. Geduld, bis jemand Zeit hat, mir zu helfen. Am schwersten fällt es mir einzusehen, dass ich für manche körperliche Arbeit eben doch zu klein und zu schwach bin. Oft überwinde ich mich dennoch, nur um anschließend mindestens eine Woche mit Rückenschmerzen und anderen Beschwerden zu jonglieren. Stur kann ich. Der Stolz ist dann trotzdem da, während ich Tee schlürfend auf dem Heizkissen liege und überlege, ob ich das Kampfergel oder die Arnikaschmerzsalbe nehmen soll. Auf Dauer ist das halt keine gute Lösung für meine Gesundheit.
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Stefanie (Mittwoch, 20 Oktober 2021 08:01)
Je älter ich werde desto wichtiger ist es, mich darauf einzulassen, Hilfe anzunehmen, da nicht nur das 'zu klein' und 'zu schwach' da ist, sondern auch noch das "ich kann es körperlich nicht mehr" dazukommt. Das hatte ich aber zu den Zeiten als ich alles noch konnte nicht gewusst - und heute fällt es mir doppelt schwer, um Hilfe zu bitten.