22.07.2014
Bei meinem steten Bemühen, mich besser zu verstehen, stieß ich im Internet auf den Begriff "hochsensibel". Zunächst dachte ich dabei an überempfindliche Menschen, zu denen ich laut meiner Eltern
ja auch gehören sollte. Tatsächlich handelt es sich jedoch um ein sogenanntes Phänomen - ähnlich wie Hochbegabung. Die grobe Erklärung lautet: Hochsensible Menschen nehmen aufgrund eines anders
funktionierenden Nervensystems mehr Reize auf als normal sensible Menschen. Sie verarbeiten diese Eindrücke auch tiefer und eindringlicher, wofür sie viel "Zeit für sich" brauchen.
Hochsensibilität ist keine Diagnose, weil es sich weder um eine Krankheit noch um eine psychische Störung handelt. Die amerikanische
Psychologin Elaine N. Aron begann 1997 mit wissenschaftlichen Untersuchungen dieses Phänomen betreffend. Da ich mich noch nicht so gut mit den genauen Einzelheiten auskenne, möchte ich an dieser
Stelle auf die Webseite zartbesaitet.net hinweisen. Dort gibt es neben einem Selbsttest sämtliche Erläuterungen über die Verschiedenartigkeit von hochsensiblen Menschen, Lärmempfindlichkeit
inklusive Ohrenstöpseltest sowie Unterschiede und Ähnlichkeiten mit ADHS und dem Asperger-Syndrom. Außerdem finden dort Eltern diverse Infoblätter für und über hochsensible Kinder.
Mit dem, was ich so auf den verschiedenen Seiten las, konnte ich mich äußerst gut identifizieren. Besonders damit, dass mir als Kind immer wieder gesagt wurde: "Sei doch nicht so empfindlich! Du
musst dir ein dickeres Fell wachsen lassen. Nimm dir doch nicht immer alles so zu Herzen!" Ich schimpfte mich selbst ein Sensibelchen und verzweifelte an meiner scheinbar mangelnden
Belastbarkeit. Auch konnte ich nie verstehen, warum die Anderen viele Dinge nicht so detailliert und intensiv wahrnahmen. Ich habe bereits in dem Post "Anders sein" vom 2. November 2013
geschrieben, wie falsch ich mich mein Leben lang gefühlt habe. So als sei es mein eigenes Verschulden, dass ich so empfinde und reagiere. Den Glauben, keinen Zugang zu meinen Mitmenschen zu
finden und abweisend zu wirken, konnte ich in der Klinik durch korrigierende Erfahrungen ablegen. Manchmal liegt es auch einfach nur an den Anderen. Klammer auf - Klammer zu.
Als ich dann die Fragen von Elaine N. Aron durchnahm, wurde mir Vieles klar. Der Test sieht folgendermaßen aus:
Antworten Sie mit "zutreffend", wenn die Aussagen zumindest teilweise zutreffen. "Unzutreffend" steht für Aussagen, mit denen Sie sich kaum oder überhaupt nicht identifizieren.
Ergebnisse: Wenn Sie mehr als 14 Aussagen als zutreffend markiert haben, sind Sie wahrscheinlich eine Highly Sensitive Person. Sollte die Zahl zwar geringer sein, die betreffenden Aussagen aber in extremem Maße zutreffen, so könnten sie ebenfalls zu den betroffenen Menschen zählen.
Quelle: https://hochsensitive.wordpress.com/tests/
Die Sätze in Blau treffen auf mich zu. Das sind dann 23 von 27 Fragen. Da dürfte das Ergebnis wohl eindeutig sein.
Hochsensibilität ist zum Teil erblich bedingt. Außerdem kann es durch hohe psychische Belastung bzw. Traumatisierung im Kindesalter entstehen. Ich denke, dass bei mir beides vorliegt. Das Nichterkennen und Tadeln durch Eltern und Lehrer sowie die Hänseleien der anderen Kinder haben dazu geführt, dass ich mich wie ein Freak gefühlt habe und glaubte, mich anpassen und mit den Anderen mithalten zu müssen. Nun weiß ich, dass ich tatsächlich anders bin und dass ich nichts dafür kann. Ebenso wenig muss ich den Anderen böse sein, wenn sie nicht gar so feinfühlig sind. Ich werde nie wie normal sensible Menschen sein und kann deshalb getrost damit aufhören, es zu versuchen. Wie befreiend!
07.08.2015
Hochsensibilität zeigt sich in verschiedenen Bereichen und zwar auf sensorischer, emotionaler und kognitiver Ebene.
Sensorisch Sensible verfügen über besonders feine Sinneswahrnehmungen und können deshalb Kunst, Musik und andere ästhetische Dinge tiefer
genießen. Allerdings fühlen sie sich von Lärm, unangenehmen Gerüchen, grellen Farben, groben Stoffen... schnell reizüberflutet und gestört.
Emotional sensible Menschen sind emphatisch und intuitiv. Sie reagieren stärker auf zwischenmenschliche Abläufe, spüren Energien und Stimmungen
ihrer Mitmenschen. Dies kann dazu führen, dass die Grenze des eigenen Ichs verschwimmt und die Unterscheidung eigener und fremder Gefühle erschwert ist. Die ausgeprägte Emphatie befähigt den
Hochsensiblen, seinen Mitmenschen ein guter Zuhörer und helfender Begleiter zu sein. Mangelnde Abgrenzung führt hier zur Überforderung.
Sensibilität auf kognitiver Ebene zeigt sich durch ein differenziertes Denken in sehr komplexen Zusammenhängen. Solche Menschen bedenken
umfassend die jeweiligen Konsequenzen verschiedener Entscheidungen und erkennen schnell den roten Faden.
Wie bei allen Kategorisierungsversuchen kann auch dieser keine eindeutigen Ergebnisse liefern. Manchmal wird noch eine spirituelle Hochsensibilität angefügt. Es ist möglich, dass ein
Hochsensibler sich in allen Bereichen wiederfindet oder nur in zweien. Meist liegt der Schwerpunkt jedoch auf einer Ebene. Hinzu kommt die Aufteilung in introvertiert und extrovertriert. Laut
Elaine N. Aron sind 70% aller HSP (High Sensitive Person) introvertiert. Dann gibt es noch die High Sensation Seeker und die Scanner. High Sensation Seeker (HSS) suchen das Abenteuer und brauchen
Abwechslung und neue Erfahrungen. Aufgrund der typischen Bedürfnisse Hochsensibler nach Rückzug und Pausen kann es bei HSS schnell zu Überforderung kommen. Hier gilt es, den schmalen Grat
zwischen gewünschter Stimulation und notwendigem Reizschutz zu finden. Scanner oder Vielbegabte (auch Multipassionierte) sind sehr neugierig und interessieren sich für eine Vielzahl von
verschiedenen Dingen. Solche Menschen wissen oft nicht, womit sie anfangen und wofür sie sich entscheiden sollen. Dies zeigt sich besonders im beruflichen Bereich. Sie werden für sprunghaft
gehalten, weil sie immer wieder neue Ideen haben. In einer Welt, in der Spezialisierung und Expertentum gefragt sind, fällt es dem hochsensiblen Scanner schwer, sich einzufügen. Er fühlt sich
beschnitten und eingeschränkt, wenn er sich nur auf ein Thema für den Rest seines Lebens fokussieren soll. Die Aufgabe des Scanners ist es, den Weg der 1000 Möglichkeiten zu meistern.
Ich denke, es wird deutlich, dass es nicht den typischen Hochsensiblen gibt, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Facetten. Das Klischee vom menschenscheuen Sensibelchen, das sich die Ohren
zuhält, wird dennoch gerne häufig als Aushängeschild benutzt. Das wird dem komplexen Phänomen der Hochsensibilität in keinster Weise gerecht.
Übrigens sind 15 - 20% der Menschheit hochsensibel. Das ist fast jeder Fünfte.
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