Als ich zu Ostern bei meinen Eltern eingeladen war, gab meine Mutter mir zum Abschied meine muffig riechenden Grundschulzeugnisse mit. Ich dachte: Ach, du Schande! Was soll ich denn damit? Steht
doch eh überall dasselbe drin. Und erinnert mich jetzt an nicht so schöne Zeiten. Denn ich habe die Schule gehasst. Nicht weil ich schlechte Noten hatte, sondern wegen des oft unangenehmen
Menschenkontakts, der größtenteils langweiligen Unterrichtsinhalte und der einengenden Vorgaben. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich in einer Religionsprüfung eine Meinungsfrage
beantworten musste und mich fragte, wie der Lehrer das bewerten will. Er bewertete es schlecht. Meine Meinung war falsch. Und ich dachte: Wieso fragt er mich nach meiner eigenen Meinung, wenn er
eigentlich seine hören wollte? Das ist doch totaler Nepp! Unfair! Ja, Bewertung mag ich auch nicht.
In der Grundschule wurde neben den Fächern auch das "Betragen" bewertet. Was für ein antiquiertes Wort! Betragen. Wie ich sehr richtig in Erinnerung hatte, stand in sämtlichen Bemerkungen zu den
einzelnen Trimestern: Yvonne könnte noch aktiver am Unterricht teilnehmen. Yvonne sollte lebhafter sein. Mehr Selbstvertrauen! Yvonne sollte sich mehr einbringen!
Was habe ich als Kind daraus gelernt? Ich bin nicht richtig, wie ich bin. Kein Wunder, dass es mir an Selbstvertrauen mangelte! Die anderen Kinder waren lauter, schneller, größer und stärker -
und wurden meist dafür gelobt. Das wurde besonders beim Sport deutlich. Beim Gruppenwählen blieb ich immer unter den Letzten auf der Bank. Raue Ballspiele waren nicht mein Ding. In der Klasse vor
den anderen zu sprechen, kostete mich große Überwindung. Beim Vorlesen habe ich gestottert, was zur allgemeinen Belustigung beitrug. Wenn einem sonst keiner zuhört, weil man zu leise redet, von
anderen Dingen spricht oder einfach nicht zu Wort kommt, weil alle so laut sind, sagt man irgendwann gar nichts mehr. Wenn man es muss, gerät man ins Stottern. Und dann lachen auch noch
alle.
Wie oft habe ich nicht in der Schule gesessen und gedacht: Zu Hause könnte ich jetzt mein Bild fertig malen oder im Brockhaus nachlesen, wie eine Sonnenfinsternis funktioniert und was eine
Supernova ist. Es hat mich geärgert, dazu gezwungen zu sein, meine Zeit mit öden Themen zu vergeuden. Am schlimmsten fand ich Gruppenarbeiten! "Findet euch mal in Gruppen zusammen!" Zack - nach
einer Sekunde hatten sich schon alle gefunden. So schnell konnte ich gar nicht gucken.
Schlimm genug, dass die anderen Kinder mich doof fanden, nein, die Lehrer bliesen ins selbe Horn. "Du musst mal aus dir herauskommen!" Warum durfte ich nicht ich sein? Warum müssen sich immer nur
die introvertierten Menschen ändern? Der extrovertierte Mensch, der ständig Kontakt sucht und jeden Tag auf 10 verschiedenen Hochzeiten gleichzeitig tanzt, scheint das Ideal zu sein. Man geht
davon aus, dass Menschen, die gern allein sind, Zeit für sich brauchen und in zenartiger Ruhe eins nach dem anderen erledigen, ein großes Problem haben und darunter leiden. Denen muss man helfen!
Damit sie mehr aus sich herauskommen! Nein, Danke! Die einzige Hilfe, die ich gebraucht hätte, wäre gewesen, mir beizubringen, wie ich mich vor Reizüberflutung schützen kann, und mich in meiner
Persönlichkeit zu unterstützen und zu fördern. Aber Moment - die Schule soll einen ja auf das Berufsleben vorbereiten.
Natürlich gab es auch das eine oder andere Fach, das ich mochte. Literaturgeschichte und Kunst zum Beispiel. Oder Biologie und Physik - endlich Antworten auf meine Fragen! Und ja, ich hatte auch
Freundinnen. Freundschaften bleiben aber bis heute ein schwieriges Thema für mich. Ich weiß auch nicht, woran das liegt.
Als ich in das Partyalter kam, waren einige Schulkameraden erstaunt, dass ich die Tanzfläche zu meinem neuen Königreich erklärte. "Ach, da blühst du wohl auf?" Wenn ihr wüsstet, dachte ich. Ihr
habt alle so gar keine Ahnung von mir! Es schaut ja auch keiner hin oder fragt mal nach. Ich bin nun mal keine sich aufdrängende Selbstdarstellerin. Ich blieb dennoch die Komische. "Wieso bist du
so?" fragte meine Freundin, weil ich mittags lieber nach Hause ging, statt mit den anderen in der Stadt abzuhängen. Heute verstehe ich, warum: Ich brauchte eine Pause, Zeit für mich. Von 8 - 5
Uhr permanent unter Menschen... Ich wäre durchgedreht.
Und doch... Der Druck, aus mir herauszukommen, stieg, das Abi rückte näher und damit das Berufsleben. Da ich glaubte, ein Problem zu haben und mich ändern zu müssen, ging ich über meine Grenzen
und passte mich der Allgemeinheit an. Mit Erfolg. Ich bekam Lob. Aber es reichte nie. "Da geht noch mehr! Das ist noch zu wenig!" Besonders während meiner ersten Berufserfahrungen wurde 100%
Performance von mir verlangt. Man war nicht zufrieden mit mir. Man fand mich wieder komisch, weil ich es hasste, ans Telefon zu gehen, und stattdessen lieber mit dem klingelnden Ding Kollegen
hinterherlief: "Telefoooon!" Ich wurde gewogen und für zu leicht befunden. Schlecht bewertet. Ich bin nicht wert genug.
Mit den Jahren ging ich immer mehr über meine Grenzen, weil ich glaubte, es müsse so so sein. Mir fiel auch gar nicht mehr auf, dass ich mich selbst überforderte, wunderte mich allerdings über
Erschöpfung, körperliche Symptome und emotionale Abgeschlagenheit. Mittlerweile telefonierte ich (Arbeitsplatzaquise - das pure Grauen), war ständig von Menschen umgeben (auch wenn ich mir
zwischendurch einsame Nischen suchte), sprach vor Chefs und Kollegen, verteidigte in Diskussionen meine Meinung, meldete mich freiwillig in Gruppen zu Wort und übernahm Klienten, die keiner
wollte. Klingt nach der erfolgreichen Verwandlung einer Introvertierten. Das Ende kennt ihr. Burn Out, Depression.
Meine alten Zeugnisse zu lesen, hat mich so wütend gemacht. Weil man mir eingeredet hat, ich müsse mich ändern, bin ich krank geworden. Weil ich weder hochsensibel noch introvertiert sein durfte.
Weil man mich unter Druck gesetzt hat, über meine Grenzen zu gehen und mich zu überfordern. Es gibt auch ein positives Übersichhinauswachsen, die Komfortzone verlassen, wo angeblich "the magic
happens". Es ist gut, seine Grenzen zu testen und gegebenenfalls auszuweiten. Aber nicht so! Ich sollte mich dauerhaft gegen meine Natur verhalten. Das ist nicht gesund!
Ihr lieben Mamis und Papas:
Falls ihr findet, euer Kind sei zu schüchtern und zu sensibel und leide darunter, überlegt mal, ob es vielleicht hochsensibel und / oder introvertiert ist. Ein introvertiertes Kind leidet
nicht an seiner Introvertiertheit, sondern an der mangelnden Akzeptanz seiner Persönlichkeit und dem Druck, anders sein zu müssen. Lasst es lieber wissen, dass es gut ist, wie es ist, und
dass es genau so sein darf. Unterstützt euer Kind dabei, wie es als HSP gut durch die Welt kommt. Fördert die Interessen eures Kindes, auch wenn sie anders sind. Presst es nicht in eine von der
Masse vorgegebene Form. Helft ihm besonders bei der Berufswahl. Eine introvertierte HSP hat andere Bedürfnisse bei der Ausübung einer Arbeit.
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Andrea (Samstag, 09 November 2019 21:33)
Es ist als würde ich über meine Kindheit lesen.Selbst bis heute (ich bin 48) kann ich nicht ich selbst sein.Ich erinnere mich an meinen ehemaligen Chef.Hatte meinen Mut zusammen genommen und ihm an Silvester ein frohes neues Jahr gewünscht. Es kam nur zurück, danke und dass ich im neuen Jahr mal mehr aus mir raus gehen solle.Und wieder wurde mir gezeigt, dass ich falsch bin mit meiner ruhigen Art.