So singt es Annett Louisan.
Tatsächlich ertappe ich mich regelmäßig dabei, wie ich zu jeder vorgeschlagenen Lösung ein Aber erfinde. Als wolle ich deutlich machen, dass mein Problem wirklich und absolut unlösbar und damit
ganz schlimm sei. Ich denke, dem liegen drei Phänomene zugrunde.
Erstens:
Wenn ich von einem Problem erzähle, das mich sehr belastet, möchte ich in erster Linie, dass mein Gegenüber mir zuhört - nicht nur mit den Ohren, sondern auch und vor allem mit dem Herzen. Ich
möchte verstanden und ernst genommen werden in meiner Not. Möchte ich auch getröstet werden? Hm, das mit dem Trost ist so ne Sache. Eine äußerst heikle Angelegenheit. Ich glaube, das, was im
Allgemeinen unter Trost verstanden wird, würde mich ärgern. Alles, was mein Leid mal eben schmälern soll, ist total fehl am Platz. Für mich bedeutet Trost z.B. ein betroffener Blick. Dann weiß
ich nämlich, dass meine Botschaft angekommen ist. Wahrer Trost ist, gesehen und gehört zu werden.
Zweitens:
Lösungsvorschläge überfordern mich oft. Ich habe gerade erst mein Problem formuliert, bin mir dessen bewusst geworden, indem ich nach den passenden Wörtern und Beschreibungen gesucht habe, um es
angemessen und verständlich darstellen zu können. Meistens bediene ich mich bildhaften Vergleichen, damit mein Gegenüber die gesamte Tragweite meines Leids begreift und im besten Falle
nachempfinden kann. Das kostet Kraft! Ich habe mir verdammt nochmal viel Mühe damit gegeben! Kann man das bitte erstmal so stehen lassen und in seiner ganzen Schönheit würdigen? Muss man es
gleich mit einem abgeschmackten Lösungsansatz zerstören? Ich bin noch dabei, zu fühlen (auch wenn ich diese Gefühle nicht benennen kann) und zu fassen, was mich quält. Da kann ich mich doch nicht
sofort einer möglichen Lösung widmen! Ich tunke die Fritten meines Hauptgerichts doch auch nicht in den Pudding für den Dessert!
Drittens:
Nach ausgiebigem Zuhören, Verstehen und Würdigen könnte in der Tat der Moment für Lösungen folgen. Hierbei ist allerdings zu beachten, ob die dafür nötige Bereitschaft beim Leidenden vorliegt. Da
hat man sich mal schnell vertan!
Ich frage mich hin und wieder, ob ich meine Probleme überhaupt lösen will oder ob ich sie festhalte. Wie liebgewonnene Kuscheltiere. Sie haben bereits Fell eingebüßt, Körperteile verloren und
stinken, weil sie nie gewaschen wurden. Aber sie sind alles, was ich habe und was ich kenne. Wenn ich sie loslasse, was bekomme ich an ihrer Statt? Wer bin ich ohne sie? Ich habe sie nun so lange
mit mir herumgeschleppt, dass ich mich mit ihnen identifiziere. Und dann kommt jemand daher und will sie mir mal eben aus der Hand reißen...! Natürlich werde ich da böse! Es scheint mir so, als
müsse ein Teil von mir sterben, damit ich mich vorwärts bewegen kann. Oder muss ich diesen Teil sogar selbst töten? Oder es zulassen, dass andere dies tun? Das klingt jetzt sehr dramatisch, aber
so fühlt es sich für mich an. Die Außenwelt versucht mir klar zu machen, dass etwas Besseres und Positives auf mich wartet. Aber ich kann das nicht so ohne weiteres glauben. Zu oft habe ich
erlebt, dass ein Neuanfang nach hinten losging. Gleichzeitig bin ich mit der aktuellen Situation unzufrieden und wünsche mir sehr wohl eine Veränderung.
Mitmenschen verstehen diese Ambivalenz und das Feststecken im Leid meist als Unwille und Bequemlichkeit. "Du willst doch nur jammern!" Ja, manchmal ist das tatsächlich so. Es muss auch Zeiten des
Jammerns geben. Aber das kleine Wörtchen "nur" ist so nicht ganz richtig. Ich will nicht "nur" jammern! Aber Veränderungen brauchen Kraft. Eine Kraft, die ich noch nicht habe. Ob ich mich
fürchte? Auf jeden Fall! Diese Angst zu überwinden, braucht ebenso Kraft. Vielleicht sogar noch mehr. Ich hoffe, dass ich meiner "Probleme" eines Tages derart überdrüssig werde, dass mich die
Angst vor dem Loslassen, vor Veränderung und Neuem nicht mehr zurückhält. Den Vorgang des Lösens kann nur ich allein bewältigen. Das Einzige, was meine Mitmenschen tun können, ist, mich in diesem
Prozess behutsam zu begleiten. Und solange ich selbst noch keine Lösung habe, bewundere ich mein Problem.
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Merle Wolter (Dienstag, 28 Mai 2019 14:10)
Liebe Yvonne, ich danke Dir sehr für Deinen Blog! Ich bin selbst betroffen. Bei mir wurde vor einem Jahr eine schwere Depression diagnostiziert. Ich bin heute 41 und habe aus Schutz für meine Familie ein Pseudonym angegeben. Ich hoffe sehr, das geht in Ordnung. Aber grundsätzlich hat ja mein Name keine Auswirkung auf das, was ich Dir gern schreiben möchte! Auch wenn ich Dein Buch nicht kenne, finde ich den Titel klasse. Annett Louisan's Songs gehören zu meinem "Depressionsrepertoire".
In allen Therapien, Gruppensitzungen etc. darf man nicht über das Thema Suizid sprechen - man könnte ja andere auf blöde Gedanken bringen. Ich habe meinen Suizidversuch am 15.11.2018 unternommen. Eigentlich "todsicher", aber mein Körper hat sich vehement dagegen gewehrt, so dass ich immer noch hier bin.
Aber genug von mir. Du machst das toll!!!! Ich wollte ursprünglich auch einen eigenen Blog erstellen, aber es gibt so viele gute Blogs - und dazu zähle ich Deinen!
Mach bitte weiter! Ich wünsche Dir viel Kraft und liebe Menschen um Dich herum, die Dich wirklich verstehen!
LG, M.
Yvonne (Montag, 03 Juni 2019 09:59)
Hallo, Merle!
Vielen Dank für deine lieben Worte! Natürlich ist es in Ordnung, hier anonym zu schreiben!
Ich finde es absolut unverständlich, dass du in deinen Therapien nicht über Suizid sprechen darfst. Das habe ich anders erlebt. Selbst wenn es in Gruppen vielleicht nicht erlaubt ist, sollte es zumindest in Einzeltherapie möglich sein. Aber wie gesagt, in der Klinik, in der ich gewesen bin, durfte auch in der Gruppe darüber gesprochen werden. Ich glaube viel eher, dass sich einige Therapeuten nicht an dieses Thema heranwagen und es deshalb verbieten.
Was spricht dagegen, deinen eigenen Blog zu erstellen? Für mich war/ist das ein Stück Therapie. Man kann natürlich auch Tagebuch schreiben, wenn man seine Gedanken nicht der Öffentlichkeit preisgeben will. Aber ich finde dieses Netzwerk unter Bloggern auch sehr schön und hilfreich. Es kann nicht genug Blogs zu diesem Thema geben!
Ich wünsche dir viel Mut und Kraft auf deinem Weg, liebevolle Unterstützung von deiner Familie / deinen Freunden und dass dir das Leben leichter fällt.
Liebe Grüße!
Yvonne
Paulita (Mittwoch, 20 November 2019 20:15)
Liebe Yvonne,
heute habe ich mich zum ersten Mal auf die Such nach Blogs zum Thema Depression umgesehen - deiner hat mich gleich gefesselt.
Es tut gut zu wissen, dass ich nicht die einzige bin, die so fühlt und denkt.
Einige Sachen hast du für mich sehr gut in Worte verpackt, Gefühle und Ansichten, die du für mich auf den Punkt gebracht hast.
"Wahrer Trost ist gesehen und gehört zu werden", da möchte ich dir absolut zustimmen. Ich möchte Ernst genommen werden in meinen Gefühlen. Der Satz "Das wird schon wieder" oder "ist doch nicht so schlimm" impliziert mir eher, dass etwas mit meinen Gefühlen nicht stimmt, ich einfach übertreibe und nicht angemessen reagiere. Auch fühle ich mich dann nicht aufgemuntert, vielmehr ausgeschlossen.
Bei der Frage, warum Probleme oft nicht losgelassen werden können, bei mir sind es Kränkungen in der Vergangenheit, die mich (oder ich sie?) nicht loslassen, hast du meiner Meinung nach ein gutes Bild gezeichnet.
Ich danke dir für deine Worte,
Liebe Grüße,
Paulita