Ich hatte nie eine schwere depressive Episode und musste keine Medikamente nehmen. Die mittelgradigen haben mir, ehrlich gesagt, auch gereicht. Ich kam zwar aus dem Bett, habe es geschafft, etwas zu essen - wenn auch ohne Appetit - , und mich sogar geduscht, aber ansonsten saß ich auf dem Sofa und starrte den Couchtisch an. Ohne ihn wirklich zu sehen.
Dhysthymie - die chronische depressive Verstimmung leichten Grades oder auch depressive Neurose genannt. Klingt gar nicht so schlimm. "Damit kann man gut leben", wurde mir gesagt. Definiere gut! Das ist ein dehnbarer Begriff. Ja, man kann damit leben. Manchmal sogar "gut", also fast so, als wäre nichts.
Und trotzdem ist da diese unsichtbare Eisenkugel am Bein, die man immer und überall mit sich herumschleppt. Gerade noch leicht genug, dass man vorwärts kommt, aber doch so schwer, dass von leicht eben keine Rede sein kann.
Ja, ich kann Freudensprünge machen. Aber nur so hoch, wie die Kette es erlaubt. Ich kann gehen und laufen, aber nicht so schnell. Und ich brauche Pausen, weil ich schneller außer Atem bin. Es ist nämlich anstrengend, so eine Eisenkugel mit sich herumzuschleppen. Mit jedem Schritt.
Wenn mir auf meinem Lebensweg Hindernisse begegnen, freue ich mich nicht über die Gelegenheit, an dieser Herausforderung zu wachsen. Ich kann nicht grazil wie eine Gazelle darüber hinwegschweben. Ich muss die Eisenkugel hochheben und mühsam hinüberklettern. Manchmal verkeilt sich das blöde Ding dabei. Dann brauche ich meine ganze Kraft, es freizuschaufeln. Inklusive Nervenzusammenbrüche, weil sich einfach nichts bewegt. Danach bin ich platt. Nicht stolz sondern platt.
"Nicht immer gleich die Flinte ins Korn werfen", "mehr Biss", "Du hältst auch nichts aus"... Wenn ihr wüsstet, was ich alles aushalte und wieviel Biss ich habe! Macht ihr das mal mit so einer Eisenkugel am Bein!
Mit der Zeit setzt die Seele ein paar Muskeln an, um die Eisenkugel besser stemmen und ziehen zu können. Aber auch das hat seine Grenzen. Ich kann damit leben und Herausforderungen meistern. Aber eben nicht so schnell, souverän und ohne Pausen. Bei allem, was schnell gehen muss, bleib ich auf der Strecke. Bei höher und weiter komme ich nicht mehr mit. Ich muss meine Kräfte einteilen. Dauerhaft. Sonst schleicht die nächste mittelgradige Episode um die Ecke. Das ist keine Faulheit oder fehlender Biss und auch keine Vermeidungsstrategie, das ist Selbstfürsorge.
Was ihr abgesehen von diesem ständigen Ballast aber auch nicht sehen könnt, ist die schicke Deko, mit der ich meine Eisenkugel gelegentlich schmücke. Lichterkette an Weihnachten, Gänseblümchen im Sommer... Manchmal steht auch nur der Aschenbecher drauf.
Katja (Mittwoch, 17 November 2021 22:35)
.... auf den Punkt genau beschrieben. Danke für den Beitrag�
Eine Eisenkugel am Bein, schwer und massiv. Ich habe es seit Mitte meines 3ten Lebensjahres. Schleppend, schnell ermüdet, schnell überreizt.
Entstanden durch eine - von Erwachsenen nicht erkannte und von mir in diesem Alter noch nicht kommunizierbare - Trauerstörung, anhaltend für mehrere Jahre. ... Dazu motorisch unruhig, ADS-Symptome, nie diagnostiziert. Psychodermatologie (Paraartefakte - Nägelkauen, später Hautkauen und Skin Picking). ... Dann Übergelitten ins Jugendalter einer nicht erkannten und nicht diagnostizierten Dyskalkulie, mit hervorgegangenem negativen Selbstbild. ... Dysthymie bis Mitte 30zig, Jahrzehntelang, dann wurde es etwas besser. ... Anfang 40zig Infektion (Borreliose, Ehrlichiose, EBV) und Neurotoxin. Folge ist chronisch Tinnitus, chronische Schmerzen und eine noch andere Art Fatigue. ... Nun inzwischen mittelgradige depressive Episoden. ... Erst vor gut einem Jahr habe ich die Bezeichnung Dysthymie gefunden. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen: endlich ein Begriff für das Gefühl. ... Und ich bin sicher, das eine Dysthymie den Weg für Anfälligkeiten, wie Schmerzen, ebnet.