Ich denke ja oft, dass die Depression vielmehr ein Symptom als eine Diagnose ist. Ein Symptom, das die wahren Diagnosen verschleiert und deckelt und die zum Vorschein kommen, wenn die Depression sich schleicht. Mit den wahren Diagnosen meine ich Angst und Trauma - oder wohl eher nur Trauma, denn die Angst ist ja auch schon wieder eine Folge davon. Sollen jetzt also alle traumatisiert sein? Ich kann an dieser Stelle nur für mich sprechen, glaube jedoch, dass zu einem großen Teil mit unpassenden Methoden an nicht erkannten oder ernstgenommenen Traumata vorbeitherapiert wird. Und alle wundern sich, warum es nicht besser oder sogar schlechter geht. Eine gewagte These, ich weiß.
Seit ich zu einer Therapeutin gehe, die sich mit Traumata auskennt, fühle ich mich sehr viel besser unterstützt. Nachdem ich meine Ausbildung zur Gestalttherapeutin beendet hatte, dachte ich: Komplett fürn Arsch! Hätte ich mal Traumatherapie gelernt! Das ist das Einzige, was wirklich hilft! - Aber das ist nun wieder sehr radikal gedacht. Trotzdem glaube ich, dass ohne eine zusätzliche Traumatherapie-Ausbildung eine therapeutische Arbeit nur halb oder gar nicht gelingen kann. Eigentlich sollte das die Grundlage eines jeden therapeutischen Ansatzes sein. Denn all die verschiedenen Methoden sind gut, nur ohne die Kenntnis von Traumata und deren Aus- und Wechselwirkungen auf bzw. mit den Symptomen anderer Diagnosen, wird doch zu häufig zu den falschen Techniken gegriffen. Auch das klingt wieder radikal und gewagt. Ich weiß, dass es Therapeut*innen gibt, die das auch ohne traumaspezifische Zusatzqualifikation sehr gut hinkriegen und ihren Patient*innen wahrhaft helfen. Die muss man allerdings suchen. Und es würde ja schon reichen, wenn der professionelle Helfer Traumasymptome erkennen und den Patienten entsprechend weiterleiten würde.
Was meine ich damit, dass die Depression andere Diagnosen deckelt und verschleiert? Wenn man depressiv ist, kommt man an seine Gefühle nicht mehr heran. Man ist innerlich und äußerlich erstarrt. Alles verschwimmt in einem dumpfen Nebel. Wenn sich dieser Nebel lichtet, kommt die Lebensfreude zurück. Man bewegt sich wieder. Aber es kommen auch Wut, Trauer und Angst - Gefühle, die anstrengend sind und weh tun. Diese Gefühle empfindet man ja nun nicht zum ersten Mal, die hatte man schon vorher. Unter anderem, weil schlimme Dinge passiert sind, die wir nicht einordnen konnten. Wenn wir emotional und / oder körperlich so überwältigt wurden, dass die Gefühle nirgendwo mehr reinpassen, und weder Angriff noch Flucht möglich ist, erstarren wir, und es entsteht ein Trauma. Was nun, wenn sich diese Starre eben in einer Depression äußert? Was, wenn die Depression als Folge und Symptom eines Traumas die Psyche vor überwältigenden Gefühlen und Emotionen schützt? Was zuviel ist, wird auf Eis gelegt, damit man sich etwas erholen kann, auch wenn das bescheuert klingt; denn in einer depressiven Episode kann man wohl kaum von Erholung sprechen. Aber immerhin überlebt man dadurch.
Wahrscheinlich ist diese Idee überhaupt nicht neu. Jedoch konnte ich bisher nirgendwo in der Fachliteratur etwas zu diesem Zusammenhang finden. Und in der Therapie / Klinik wurden die verschiedenen Diagnosen immer voneinander getrennt. Zumindest in meiner Wahrnehmung. Und ich erlebe es oft so, dass "kleine" Traumata als belangslos bezüglich ihrer Wirkung abgetan werden. Nach dem Motto "Dann wäre ja jeder traumatisiert, weil jedem schonmal was mehr oder weniger Schlimmes passiert ist!". Aber dass einem etwas Schlimmes passiert, heißt ja noch nicht, dass man danach traumatisiert ist. Bei der Entstehung eines Traumas spielen mehrere Faktoren eine Rolle, u.a. Ohnmachtsgefühle, Beschaffenheit der Bewältigungsstrategien, Vulnerabilität... Es können also zwei Menschen das gleiche erleben, und einer kommt danach klar, während der andere Symptome entwickelt. Wer entscheidet, wann ein Erlebnis ein Trauma ist oder nicht? Und nach welchen Kriterien? Ich stelle mir selbst auch oft die Frage, ob ich sie noch alle hab. Was ist mir schon großartig passiert? Ich wurde weder verprügelt, noch vergewaltigt oder tagelang eingesperrt. Auch habe ich keine Naturkatastrophe und keinen Bombenangriff erlebt. Dennoch verfolgen mich Erinnerungen, quälen mich Träume und stresst mich mein Alltag schneller als andere. Außerdem habe ich Ängste entwickelt, durch die manche Dinge schwieriger bis unmöglich für mich geworden sind.
Das heißt natürlich nicht, dass alle, die an PTBS leiden, gleichzeitig Depressionen haben. Und es müssen auch nicht alle Depressiven traumatisiert sein. Ich finde nur, dass im Falle einer diagnostizierten Depression auf darunterliegende Traumata untersucht werden sollte, bevor man lustig drauflos therapiert. Ebenso bei einer Angststörung. Dafür müssen noch nicht einmal sämtliche Kriterien für eine PTBS erfüllt sein. Die sollten vielleicht ohnehin mal überarbeitet werden. Die anderen Therapiemethoden sind in Kombination natürlich sinnvoll und hilfreich, müssten dann aber traumaspezifisch angepasst werden.
Vielleicht stelle ich zu hohe Ansprüche. Fehldiagnosen passieren. Im psychischen wie im physischen Bereich. Ärzte und Therapeuten sind auch nur Menschen. Aber ich habe schon so viele Gruselgeschichten von Betroffenen gehört (und selbst erlebt), die hochgradiert getriggert von der Therapie oder dem Gespräch mit dem Psychiater nach Hause kamen, dass ich mir einfach die Frage stelle, was da los ist. Warum werden Traumata so wenig ernst genommen? Das betrifft auch die ewig langen Wartelisten für ambulante und stationäre Traumatherapie.
Für mich ist die Depression zur Zeit jedenfalls mein geringstes Übel. Ich bin vielmehr mit Ängsten und Traumakram beschäftigt, für die meine Psyche jetzt anscheinend bereit ist. Der Nebel hat sich gelichtet, und vor mir erscheint der nächste Trümmerhaufen, der bearbeitet werden will.
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Iris Nowak (Montag, 27 August 2018 19:03)
deine Bilder sind total toll. super fotografiert! Würde ich auch gern können..... ein echtes Talent, den Blick für das Detail, sehr schön.
Karin (Samstag, 01 September 2018 09:12)
Wie du mir doch mit diesem Artikel aus der Seele sprichst. Danke dafür
Gerhard Evers (Mittwoch, 06 November 2019 17:23)
Leider steht steht die Psychiatrie und Richtlinientherapie in Bezug auf Trauma noch ziemlich am Anfang.
Insbesondere, was komplexe Traumastörungen anbetrifft oder z.B. Entwicklungstrauma.
Deshalb funktionieren auch soviele Standard-Therapien leider nicht, wenn z.B. Depression, Panik und Angststörungen Komorbiditäten (Folgestörungen) von Traumata sind. Als Kassenpatient an erfahrene Traumatherapeuten zu kommen, die sich ihr Wissen und Methoden in Hinblick auf die verschiedenen Traumaformen zusätzlich zu ihrer klassischen richtlinienorientierten Ausbildung erworben haben (z.B. im körpermethodischen Bereich) , ist
leider fast wie ein Lottotreffer. Und man muss ja auch erstmal wissen, wonach man überhaupt suchen soll. Kann Deinen Vermutungenn im Artikel nur Recht geben. Herzliche Grüsse