Nun habe ich schon zum dritten oder vierten Mal die Twitter App von meinem Smartphone deinstalliert, um eine Pause vom ständigen "informiert" sein einzulegen. Mittlerweile vermisse ich sie gar nicht mehr. Dabei war es mir anfangs richtig schwergefallen, mich zu entwöhnen. Ja, es war schon zu einer kleinen Sucht geworden dieser in kurzen Abständen wiederholte Griff zum Handy. Vor allem aber zur Last.
Ich glaube, es war im Jahr 2016, als ich mich bei Twitter registrierte, um meinen Blog zu promoten und mich mit anderen Bloggern zum Thema mentale Gesundheit zu verbinden. Mein Plan ging wunderbar auf. Ich lernte nette Menschen hinter ihren Accounts kennen und gewann mehr Leser und damit Resonanz. Was sogar zu der Idee mit dem Buch führte. Replies from hell hielten sich in Grenzen. Im Zweifel gibt es ja die Blockierfunktion, die ich jedoch selten einsetzen musste. Dick pics habe ich auch keine bekommen. Und schon frage ich mich, ob ich dafür zu hässlich bin. Kopf -> Tisch. Hach ja, mein Selbstwertgefühl. Dabei kann ich auf schlechte Fotografien von privaten Körperteilen echt verzichten. Ich bekam nur einmal eine merkwürdige Anfrage von jemandem, der sich wünschte, er sei ein Schwein und ich seine Metzgerin. Abgründe. Ich habe viel Verständnis und Mitgefühl. Deshalb lasse ich sowas unkommentiert stehen. Keine Ahnung, was bei solchen Menschen los ist. Wer bin ich, ein Urteil darüber abgeben zu können oder zu dürfen? Trotzdem möchte ich solche Bilder nicht in meinem Kopf. Twitter ist nunmal ein öffentlicher Platz, wenn man Account und Postfach nicht mit einem Schloß versieht und damit die Möglichkeit neuer positiver Kontakte verhindert. Meinem ursprünglichen Plan wäre dies auch nicht förderlich gewesen.
Alles in allem war Twitter meistens angenehm und lustig für mich. Dann kam die Pandemie, und die Menschheit zeigte immer mehr ihr wahres Gesicht. Hass, Spaltung, Beschimpfung von allen Seiten. Dazwischen ein paar wenige, die sich um Verbindung und das Bauen von Brücken bemühten. Der Druck, eine Meinung oder vielmehr noch eine Haltung zu haben und diese konsequent und unerschütterlich zu teilen und zu verteidigen, wuchs. Cancel Culture griff von allen Parteien um sich. Twitter begann zu zensieren. Was ist bloß mit der Welt los, fragte ich mich. Und wo stehe ich darin? Wo will ich stehen? Für welche Seite entscheide ich mich, wenn ich denn mal zu einer eindeutigen Meinungsbildung gekommen bin? Ich wählte beide Seiten und keine davon. Eine Zen - würdige Antwort. Und es ist die einzige, die ich wirklich vertreten kann und will. Denn am Ende gibt es nur eine Sache, die ich mit Sicherheit weiß: dass ich nichts weiß. Ich kenne die Wahrheit nicht. "Die" Wahrheit. Und ich will nicht zu einem Team gehören und mich damit ganz stolz von anderen Menschen abgrenzen.
Die Social Media Plattform mit dem blauen Vögelchen wurde langsam zur Qual. Aus meiner sozialen Verunsicherung heraus wollte ich ständig nachlesen, was die Leute gerade dachten, ob sie für oder gegen etwas waren, wie die allgemeine Stimmung war. Meistens ging es mir schlecht mit dem, was ich las. In der Hoffnung, eine positive Wende zu finden, blieb ich immer öfter stundenlang am Handy kleben. Mit Nackenverspannungen zur Folge. Total dämlich, ich weiß. Das nennt sich wohl Traumareaktion - das Kontrollierenwollen der Reaktionen und Gedanken meiner Mitmenschen. Als ob ich da irgendwas kontrollieren könnte. Wem das jetzt zu weit hergeholt erscheint, dem empfehle ich den Instagramaccount von Dr. Nicole LePera @the.holistic.psychologist. Sie erklärt einfach und einleuchtend (allerdings in englischer Sprache), wie traumatische Beziehungserfahrungen in der Kindheit auf unsere Beziehungen und unser Kontaktverhalten im Erwachsenenalter einwirken und welche Verhaltensmuster daraus resultieren.
Irgendwie fand ich einen Umgang damit und konnte auch wieder die angenehmen Seiten von Twitter genießen. Ich hatte es geschafft, emotionalen Abstand zu gewinnen. Und es gibt einfach manchmal zu witzige Tweets. Ich bin mehr als einmal Tränen lachend vom Sofa gefallen.
Dann kam der Krieg und setzte allem noch eins drauf. Es ist ja so schon alles schlimm genug, aber muss ich wirklich dauernd wissen, was alle Welt darüber denkt? Will ich mich wirklich weiterhin all diesen negativen Energien aussetzen? Für die paar Lacher zwischendurch? Oder stecke ich nur den Kopf in den Sand, wenn ich mich daraus zurückziehe? Also erstens, Twitter wird zwar als Nachrichtendienst bezeichnet, aber auf die Nachrichten von Hinz und Kunz aus der heimischen Hasszentrale oder vom Paniksofa kann ich verzichten. Natürlich kann ich meine Timeline mittels Einstellungen und Folgeverhalten einigermaßen gestalten. Aber eben nur einigermaßen. Irgendein Spacken rutscht dann doch immer dazwischen. Oder Bilder, die ich nicht sehen will. Und wie informiert bin ich dann eigentlich? Nur so halb und größtenteils falsch. Vor allem aber mit ganz viel mitschwingenden Emotionen. Da kann ich auch RTL einschalten. Sind wir - bin ich - nicht schon aufgewühlt genug? Zweitens ist Twitter ja nun bei Weitem nicht die einzige Möglichkeit, (des)informiert zu werden. Ich hole mir meine Informationen jetzt lieber woanders. Ich möchte nicht mehr wissen, was in sämtlichen Köpfen vor sich geht. Es reicht zu wissen, was in der Welt passiert.
Es fiel mir ehrlich nicht leicht, die Kontrolle aufzugeben und nun nicht mehr zu wissen, was alle denken. Obwohl es mir nicht gut tat. Im Gegenteil. Es lastete immer mehr auf meiner Psyche und war sogar Thema in meiner Therapie. Ich weiß gar nicht, wie lange meine letzte Twitterpause schon anhält, aber ich spüre kein Bedürfnis, zurückzukehren. Vor wenigen Tagen habe ich am Laptop nochmal reingeschaut, und es interessierte mich einfach nicht mehr. Als beim ESC auf dem Sender One die Tweets eingeblendet wurden, haben mich die meist dämlichen Kommentare derart genervt, dass ich auf ARD umgeschaltet habe. Und da ich meinen Dare to be mad Blog ohnehin abschließen möchte, erscheint es mir nur logisch, mich auch von Twitter zu verabschieden. Auch wenn es mir für manche Menschen, die ich gerne gelesen habe, leidtut. Wer möchte, kann mich allerdings auf Instagram unter @__i_am_yvonne__ finden, auch wenn er oder sie sich vielleicht über gänzlich anderen Content (bis auf Stella natürlich) wundern wird. Instagram ist tatsächlich eine Plattform, auf der ich Inspiration und Unterstützung finde. Leider auch viel Werbung. Naja, nichts ist perfekt.
Ich habe viel gelernt - über mich, über zwischenmenschliches Verhalten in der anonymen virtuellen Welt, über sämtliche neue Bezeichnungen wie CIS, Terf oder PoC, über WaZiFuBo und Montagslächeln, Hoodiefriday und Stinkefingermittwoch, wie schnell man zum Nazi oder linksgrünversifften Gutmenschen wird, und vor allem, dass die Welt noch viel bekloppter ist, als ich es in meinem kleinen belgischen Dorf unterm Stein befürchtet hatte. Darauf ein Fump! Redewendungen wie "Ich prangere das an!" haben sich in meinen alltäglichen Sprachgebrauch geschlichen. Ja, wenn ich etwas mache, dann gründlich und mit voller Seele.
Ich bastle übrigens an einer neuen Webseite mit Blog und eventuellem Mitgliederbereich. Dabei habe ich noch gar keine genaue Vorstellung vom Schwerpunkt geschweige denn von einem Namen oder Konzept. Mal sehen. Aber ich fühle, dass ich weiterhin meine Gedanken mitteilen möchte. Und dass ich das Schreiben nicht aufgeben will.
Also, ciao, Twitter! Und danke für ungefähr 6 Jahre Spaß, nette Kontakte und all den anderen Kram, für den ich dich nicht vermissen werde!
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Pat (@JustMe_HH) (Sonntag, 09 Juli 2023 12:03)
Hallo liebe Yvonne!
Ich möchte auf diesem Weg kurz Hallo sagen und dir einen lieben Gruß da lassen. Ich habe dein Blog eben gegoogelt und freute mich als ich es hier wiederfand. Mein letzter Stand war das du es gelöscht oder deaktiviert hattest. Ich hab immer gern bei dir gelesen. Du erinnerst das vielleicht. Auf Twitter kanntest du mich als @JustMe_HH. Ich habe Twitter 2022 endgültig den Rücken gekehrt. Es ging einfach nicht mehr. Bei Interesse findest du mich unter demselben Accountname auf Mastodon.social.
Ich hoffe es geht dir gut. Hast du die Pferde noch? (Ja, wir hsben lange nicht geschrieben.)
Liebe Grüße! Pat
Yvonne (Montag, 10 Juli 2023 09:34)
Hallo, liebe Pat!
Natürlich erinnere ich mich! Und ich habe mich sehr über deine lieben Grüße hier gefreut. Man findet meinen Blog noch über Google? Das ist ja super! Ich hatte befürchtet, er würde im Nirwana verschwinden.
Nein, die Pferde habe ich nicht mehr. Nach der Scheidung habe ich sie meinem Mann überlassen, und meine alte Stute ist mittlerweile verstorben. Mir geht es aber gut. Stella und ich genießen unsere Zweisamkeit.
Liebe Grüße!
Yvonne